Zeitenspiegel Reportagen

14. Hansel-Mieth-Preis verliehen

05.05.2014

Am 7. Mai wurden der Journalist Takis Würger und der Fotograf Armin Smailovic für ihre im Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” erschienene Reportage „Angst“ mit dem Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet. Die Geschichte über den Boxer Andreas Sidon dokumentiert die letzten 24 Stunden vor einem Kampf, der für den Sportler tödlich enden könnte.

„Ich war beeindruckt von der Leidenschaft des Boxers, auch noch beim zweiten Lesen“, sagte Oberbürgermeister Christoph Palm bei der Festveranstaltung im Fellbacher Rathaus. Vor etwa 100 Gästen las die Theaterregisseurin Eva Hosemann die Sieger-Reportage, für die musikalische Begleitung sorgte der Pianist Patrick Bebelaar.

Der mit 6000 Euro dotierte Hansel-Mieth-Preis der Agentur Zeitenspiegel würdigt engagierte Reportagen in Wort und Bild.

Die Laudatio hielt in diesem Jahr “Spiegel”-Redakteurin Barbara Supp, hier die Rede im Wortlaut:

Guten Abend, meine Damen und Herren,

wenn Sie jetzt nicht hier säßen, um die Hansel-Mieth-Preisträger zu feiern, würden Sie vielleicht zu Hause in der ARD einen Film über ziemlich junge, ziemlich von sich überzeugte Männer in ziemlich guten Anzügen ansehen. Ich meine den Film über die “Spiegel”-Affäre von 1962. Ich habe ihn gesehen, und ich habe noch nicht entschieden, ob ich deswegen wehmütig werden soll oder nicht.

ich komme ja aus dem Magazin, in dem er spielt, ich bin seit 1989 beim „Spiegel“ und gehöre zu denen, die den späten Rudolf Augstein erlebt haben, als gelegentlich anwesendes, brummiges und manchmal Kommentare schreibendes Stück Zeitgeschichte. Und ganz ganz selten auch mal am Telefon, wenn ihm ein Text gefiel. Dann brummte jemand ins Telefon und ging davon aus, dass jeder wissen müsse, wer es war: ER.

„Wir sind jung, wir kennen keine Gnade“, diese Augstein-Phase habe ich nicht erlebt - in mancher Hinsicht bedauerlicherweise, in anderer aber auch nicht. Die Chuzpe von damals gefällt mir, die Selbstverständlichkeit der Überzeugung: Wenn wir etwas schreiben, wackelt die Republik. Die Selbstherrlichkeit gefällt mir weniger.

Wir Frauen kriegen im „Spiegel“ heute keinen Klaps mehr auf den Po. Wir dürfen mehr als tippen. Es gibt Redakteurinnen, Reporterinnen, Ressortleiterinnen; Chefredakteurinnen nicht, aber vielleicht kann sogar das noch passieren. Das ist dann doch ein ganzes Stück entfernt von der Zeit, da in einer nicht mehr ganz ausschließlich männlichen Redaktionskonferenz der Satz zu hören war: „Huch, eine Frau“. Oder, wie es eine Kollegin erzählt, die Korrespondentin im Außenbüro war: Wie sie einen Anruf aus der Zentrale Hamburg entgegennimmt, sagt, wer sie ist und als Antwort bekommt: “Was, ist niemand da?”

Der „Spiegel“ hat sich verändert, die Republik hat sich verändert, und das ist gut so. Was aber auf jeden Fall bleibt von Augstein, ist ein Spruch, der an der Wand im neuen “Spiegel”-Gebäude hängt: “Sagen, was ist”. Ein guter Plan. Ein schönes Programm für das, was Journalismus sein soll. Sagen, was ist; zeigen, was ist. Geht das noch? Passt das noch?

Es sind so seltsame Wörter aufgekommen in unserer Branche. Plötzlich heißt „Content“, was wir produzieren, oder „premium content“, wenn wir Glück haben, so drückt es der Bundesverband der Zeitschriftenverleger aus. Da wird ein Verlag zum “House of Content” umdefiniert, mit „Communities of Interest”, die heißen dann beispielsweise Women, Family, Food, People & Fashion, News, Wissen, Living, Wirtschaft, und ich habe überlegt, wohin die Geschichte, die den Hansel-Mieth-Preis 2014 bekommt, eigentlich passt: über einen Boxer, der nicht aufhören kann, obwohl die Ärzte sagen, dass er seinen nächsten Kampf vielleicht nicht überlebt. Die Community “Dying” wurde offensichtlich vergessen. Oder „almost dying but not quite dead“.

Was ist ein „kick off meeting“? Das erlebt man, bevor man loszieht und eine Geschichte recherchiert. “quality content” ist das, was man mitbringt, wenn alles gut geht. “managing editor”, oder „content manager“ heißt derjenige, der es liebevoll an die Öffentlichkeit bringt, hoffentlich.

Was ich mir wünsche, ist: Dass so ein Content-Verbreiter Journalismus meint, wenn er Content sagt. Nämlich: Essay, Interview, Report, Reportage. Und nicht Bratpfannen, oder Hundefutter.

Der Zweifel ist mein Job, ist unser Job. All dieses Marketinggesumm fällt in eine Zeit, in der man die Folgen eines Irrtums zu spüren bekommt – jener Fehleinschätzung, die meinte, es sei eine gute Idee, wenn man professionelle journalistische Produkte im Netz verschenkt. Diese Produkte kosten etwas und sind etwas wert, aber das wurde oft vergessen.

Da gibt es vieles nachzuholen. Wir müssen herausfinden, wie man dieses Berichten und Erzählen im Digitalen weiterentwickelt. Wie man nicht nur neue Erlösformen findet, sondern neue Erzählformen, die Spaß machen, uns, die wir sie präsentieren und dem Nutzer, der sie sieht, liest und hoffentlich bezahlt.

Ich will nicht Jammern. Im Gegenteil, ich wünsche mir, das wir damit aufhören. Dass wir, damit meine ich in diesem Fall diejenigen, die Papier bedrucken und daraus Zeitungen und Zeitschriften machen, aufhören, unseren Untergang zu beschwören. Dass wir nicht nur aufgeregt auf die Grafiken schauen, die sagen: weniger Käufer, weniger Anzeigenerlöse, sondern uns fragen: Kann es sein, dass wir uns zu masochistisch gerieren?

Zwei Zahlen, aus einer Umfrage im vergangenen Herbst. Sehr ordentliche drei Viertel der Befragten lesen manchmal oder regelmäßig 7 bis 20 Zeitschriften. Gut merken könne man sich das, was man auf Papier gelesen hat, sagen 56 Prozent, bei online sagen es vier Prozent. Was ich sagen will: schnell, variabel, flexibel: Das ist online. Print kann etwas anderes. Print kann einen Lesezustand herstellen, in dem man die Welt um sich herum vergisst. Mein Lieblingsleser: Das ist Hamilkar Schaß, „mein Großväterchen“, aus Siegfried Lenz‘ „Masurischen Geschichten“. Der sich das Lesen beigebracht hat. Und liest.

Und es ist Krieg und Hamilkar Schaß steht Posten und General Wawrila stampft heran und stinkt nach Fusel, und nach den Rokitno-Sümpfen, und sagt: “Ich werde dich jetzt, du alte Eidechse, halbieren. Aber ganz langsam.” “Eine Seite nur noch”, sagt Hamilkar Schaß. ” Es sind, bei Gott, nicht mehr als 35 Zeilen. Dann ist das Kapitelchen zuende.” Und er liest.

Diese 35 Zeilen möchte man geschrieben haben.

Eine gute Geschichte kann das: Einen Sog herstellen. Und ich behaupte: Auf Print kann sie es noch besser als digital. Ich glaube, wir sind manchmal zu defensiv mit unseren Schwarz auf Weiß gedruckten Wörtern und den Bildern dazu. Mit unseren Geschichten, in denen nichts anzuklicken ist, die einfach nur da sind. Die nicht die Einladung zum Abschweifen bieten: Moment, Chamonix, war ich da nicht auch schon mal? Moment, dieser Bursche auf dem Foto, sieht der nicht aus wie….? Ich google mal. Nein. Da ist nur ein Text, der sagt: das andere, das kriegst du jetzt nicht. Du kannst dich nicht fortklicken. Lies weiter. Bleib dabei. Du kannst hier versinken wie in einem Buch.

Warum lesen so viele Jüngere die unförmige „Zeit“? Meine These: Weil sie ein bestimmtes Verhalten erzwingt. Weil sie sich nicht anbiedert und sagt, nimm mich mal eben zwischendurch. Sondern selbstbewusst da liegt, weil sie sagt: Ich bin ein Brocken. Schau mal. Du wirst etwas finden, das dich interessiert.

Das ist es, weswegen ich nicht glauben kann, dass die Zeitung aussterben wird: Das zufällige. Dinge, über die ich stolpere, ohne dass ich sie gesucht hätte. Die Geschichte über ein magersüchtiges Kleinkind in der “Zeit”. Die Rezension einer Bibelserie von Willi Winkler in der “Süddeutschen Zeitung”. Eine Kontroverse über das Leben im Odenwald in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”.

Damit das passiert, müssen sich ein paar Leute quälen. Müssen die Themen finden, recherchieren, überprüfen, schreiben, sich mit dem Schreiben quälen, viele tun das ja, und Wolf Schneider, mein - ebenso selbstsicherer wie selbstherrlicher - Schulleiter hat recht: Qualität kommt von Qual.

Es gibt Menschen, die den „Spiegel“ freiwillig auf dem Iphone lesen. Mich überrascht das, ich kann mir nicht vorstellen, dass es mehrheitsfãhig wird, aber gut, vielleicht ja doch. Niemand kann es wissen, und deshalb bin ich der Meinung, wir sollten aufhören, dauernd panisch auf die Vertriebswege zu schauen, sondern überlegen: Wie gut machen wir unseren Job?

Wir müssen eine haltbare Ware produzieren, über den Moment hinaus; “Echtheit statt Echtzeit”, dieser Spruch stammt vom Fernsehmann Ernst Elitz. Tun wir das? Wir, die versuchen, “quality content”, ach was, seriösen Journalismus zu generieren?

Constantin Seibt vom “Tages-Anzeiger” in der Schweiz, ein wirklich kluger Journalist und Blogger, ich würde sagen: der Wolf Schneider von heute, er sagt: Wir müssen verdammt aufpassen, dass wir das wirklich tun. Der Spardruck in den Redaktionen verstärkt, was vorher schon die Versuchung war.

Journalisten, sagt Seibt, sind die “die Wachhunde der Demokratie - ein edler Job. Und ein heikler. Denn auch Wachhunde haben die Instinkte aller Rudeltiere.” Das ist die Gefahr, die große Versuchung: dem Rudel zu folgen. Zu vergessen, was unser eigentlicher Job ist: der Zweifel. Der Zweifel, der zum Reflex werden muss – und der oft viel zu spät kommt, wenn überhaupt. Ein paar Beispiele: Wie früh kamen wir Journalisten auf die Idee, zu fragen:

  • Hat der Westen in der Ukraine alles richtig gemacht?
  • Ist “TTiP”, das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, ein Segen, und wenn ja, für wen?
  • Wer profitiert von der Agenda 2010? Deutschland? Ganz Deutschland? Wirklich ganz Deutschland?
  • Brauchen wir “Stuttgart 21”? Wer braucht “Stuttgart 21”?

Die alte Frage: Cui bono? Wer profitiert?

Den Mächtigen auf die Finger schauen, auf die Finger hauen: Das ist unser Job.

Constantin Seibt meint, dass der Spardruck, der jetzt in den Redaktionen herrscht, all das Ungute verstärkt.

“Je schmaler die Redaktion”, so schreibt er, “desto stärker konzentriert sich die Redaktion auf die kleinen Geschichten. Große Skandale sind komplex, juristisch wie als Geschichte. Etwa Steuergesetze, die Konzernen Millionen bringen. Dagegen: Kleine Storys, etwa eine 1000-Franken-Spesenrechnung, ein dummer Nebensatz oder eine schwarz arbeitende Putzfrau, sind kleine, überschaubare Geschichten.” Der kleine Aufreger zwischendurch: Fast Food. Es bläht auf, macht aber nicht satt.

Für die großen Geschichten, die komplex, teuer und manchmal sogar gefãhrlich sind, braucht man Geld, braucht man ein gutes Team. Also Ressourcen, Leute, Zeit. Wenn der Spardruck dazu führt, dass es das nicht mehr gibt, dann braucht man uns nicht mehr.

Seibt findet, dass wir die Wirklichkeit verzerren. Sein Beispiel: Im deutschen Bundestagswahlkampf hat sich die Debatte auf Autobahngebühren, Steinbrücks Zeigefinger und den Vegetariertag der Grünen gestürzt und das wirklich wichtige vernachlässigt: Eurokrise, Überwachung, Deutschlands dominierende Rolle in Europa.

Ich denke, er hat in sehr vielem Recht. Aber ich denke, es gibt auch etwas richtig Gutes, das wir haben, wir müssen es fördern, schützen und pflegen: Reporter. Denkende, analoge Menschen, die hinausgehen, um die Wirklichkeit zu verstehen.

Über Jürgen Leinemann, den großen, im vergangenen Jahr leider verstorbenen Reporter, hat eine Kollegin einmal gesagt: “Bevor ich Leinemann lese, mache ich mir einen Tee.”

Darum geht es: Um Geschichten, für die es sich lohnt, einen Tee zu machen.

Um Reporter, die rausgehen und der Wirklichkeit eine Form geben, eine Erzãhlbarkeit. Ein guter Journalist geht, dieser schöne Satz stammt von Nils Minkmar, mit dem Kopf durch die Welt. Der Reporter, ob er nun fotografiert oder schreibt, weiß etwas über die Welt und ist aber auch bereit dazu, alles das beiseite zu schieben, wenn die Welt sich anders zeigt, als er dachte. Der schreibende Reporter hört, sieht, riecht, schmeckt, fühlt, um mir, als Leserin, das zu geben, was “youtube” mir nicht gibt. Eine gute Reportage erinnert mich an das, was die französischen Naturalisten unter Literatur verstanden: ein Stück Leben, gesehen durch ein Temperament. Oder noch besser: zwei Temperamente, einer sucht die Sätze, einer sucht die Bilder, zwei, die hoffentlich zusammenpassen, denn wenn nicht, dann – aber das ist eine andere Geschichte.

Zurück zu den Naturalisten: Ich denke an die Dossiers, die Emile Zola anlegte, bevor er tatsächlich schrieb. Über das Leben der Bergarbeiter, über Menschen in Markthallen, Bahnhöfen, Kaufhäusern: Er recherchierte, und dann schrieb er. Was er schrieb, war nicht wahr, aber wirklich. Das ist der Unterschied zum Reporter: Was der schreibt, muss wahr und wirklich sein.

Aber Zolas Motivation, denke ich, ist eine, die auch den Reporter ziert: Die Wirklichkeit zu erfassen, und zwar so, dass sie berührt. Genau hinschauen, und im Individuellen das Grundsätzliche sehen. Und im Grundsätzlichen das Individuelle.

Dafür muss Geld da sein. Sonst kann man beim Hundefutter bleiben.

Vom Leiter der “Springer-Akademie” habe ich den Satz gelesen: “Die Idee des Reporters, der ganz allein rausgeht und recherchiert, ist veraltet.” Gut, ich will ja gar nicht, dass er allein rausgeht. Lieber zu zweit, mit einem kongenialen Fotografen. Gemeint war aber wohl etwas anderes, und dieses andere ist bedrohlich.

In den USA, erzählt einer meiner Kollegen, trifft er immer häufiger auf großartige Reporter, die sich irgendwie, durch Sponsoren, Stiftungen, wie es irgend geht, das Geld zusammenbetteln müssen, um ihre Geschichten zu recherchieren und zu erzählen. Hier ist das noch nicht der Normalfall.

Noch nicht? Jedenfalls müssen wir es nutzen. Und manchmal feiern. Heute zum Beispiel, es gibt Grund dazu.

Vielen Dank.

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