Zeitenspiegel Reportagen

Hansel-Mieth-Preis: Die Entscheidung

06.03.2018

Der Hansel-Mieth-Preis 2018 geht an Christof Gertsch und Mikael Krogerus (Text) und Julian Baumann (Fotos) für ihre Reportage “Die Entdeckung der Schnelligkeit”, erschienen im Schweizer Magazin. Es ist ein Abend im August 2009, als in Berlin ein Mann so schnell rennt wie kein anderer zuvor. 100 Meter, 9,58 Sekunden. Die Frage: Wer ist Usain Bolt?

Das Reporter-Team hat diese Frage während der Recherche seinem Vater gestellt, seinem Entdecker, seinem Coach, Trainingspartnern und Sponsoren – so viele verschiedene Stimmen, so viele Interpretationen, so viele neue Fragen. Die “vielleicht vielsagendste Antwort”, so die Reporter, gab ihnen der zweitbekannteste lebende Jamaikaner: der Reggae-Popmusiker Shaggy. “Wir saßen in seinem Aufnahmestudio in Kingston, es war bereits spät, und der etwas abgehalfterte Popstar sang alte Lieder neu ein. Uns fielen fast die Augen zu – der Jetlag, die Hitze, das Bier, der kaum zu verstehende jamaikanische Dialekt. In den Aufnahmepausen alberte Shaggy mit seinen Kumpels herum, ignorierte uns, hielt uns hin, und als wir schon meinten, dass er uns vergessen hatte, fragte er aus dem Nichts: ‘Ihr wollt Usain Bolt verstehen?’

Wir nickten und erwarteten irgendein Geschwätz.

Shaggy aber setzte sich, dachte lange nach und sagte dann: ‘Ihr Schweizer habt Roger Federer, das ist euer Star.’

Wir nickten.

‘Ihr achtet ihn, aber ihr identifiziert euch nicht mit ihm, ihr bezieht ihn nicht auf euch.’

Wir nickten.

‘Mit Usain Bolt in Jamaika ist es umgekehrt. Wir bewundern ihn nicht, wir erkennen uns selbst in ihm.’ Er machte eine Pause. ‘Jeder von uns glaubt, ein Star zu sein, und Usain Bolt ist lediglich der Beweis dafür, dass das stimmt.’”

Die Reporter folgten seinen Spuren von Kingston über Köln bis nach Nyon. Sie gehen der Frage nach, warum Usain Bolt in seiner Heimat Jamaika behandelt wird wie ein Gott. Sie analysieren, warum dieser Mann schneller laufen kann als alle anderen. Und am Ende begegnen sie Bolt und landen in seinen Armen. Das Ergebnis ist “ein Ausnahmeporträt eines Ausnahmesportlers”, würdigt Jury-Vorsitzende Amrai Coen. “Die literarische Sprache, die zeitlosen Bilder und die allumfassende Recherche ziehen den Leser in den Bann und lassen ihn begreifen, dass Usain Bolt mehr ist als nur ein Läufer. Ein Held, ein Halbgott.”

Für den Hansel-Mieth-Preis, der am Donnerstag, den 3. Mai 2018 in Fellbach bei Stuttgart zum 20. Mal verliehen wird, wurden 155 Bewerbungen eingereicht. Er ist mit 6.000 Euro dotiert. Die Agentur Zeitenspiegel Reportagen erinnert mit dem Preis an ihr 1998 verstorbenes Ehrenmitglied Johanna “Hansel” Mieth, die sich als Fotoreporterin für das amerikanische Magazin Life sozialen Themen widmete. Er würdigt herausragende engagierte Reportagen, Text und Fotos werden dabei gleichermaßen bewertet.

Folgende Reportagen wurden ebenfalls ausgezeichnet. Sie werden zusammen mit dem Gewinnerbeitrag im Sammelband “Hansel-Mieth-Preis 2018” (Schwoerer Verlag) veröffentlicht. Das Buch kann bei Zeitenspiegel Reportagen (agentur@zeitenspiegel.de) vorbestellt werden.

  • “Mannomannomann” von Autor Markus Feldenkirchen und Fotograf Hermann Bredehorst (Der Spiegel)

  • “In einem vergifteten Land” von Autor Jan Christoph Wiechmann und Fotograf Pablo E. Piovano (Stern)

  • “Drei Minuten” von den Autoren Vivian Pasquet und Martin Schlak und den Fotografen Dominic Bracco und Carolyn Drake (GEO)

  • “In den Sümpfen des Hungers” von Autor Wolfgang Bauer und Fotograf Andy Spyra (Die Zeit)

  • “Herr Piepgras macht Politik” von Autor Jonathan Stock und Fotograf Johannes Arlt (Der Spiegel)

  • “Ein graues Leben” von Autor Patrick Bauer und Fotograf Mario Wezel (Süddeutsche Zeitung Magazin)

  • “Sieben Jahre” von Autorin Barbara Hardinghaus und Fotografin Thekla Ehling (Der Spiegel)

  • “Sorgenkinder” von Autor Johannes Böhme und Fotograf Robin Hinsch (Süddeutsche Zeitung Magazin)

  • “Eine Reise ohne Worte” von Autorin Christine Kensche und Fotografin Marlene Gawrisch (Welt am Sonntag)

Die Jury: Amrai Coen, Die Zeit (Vorsitzende der Jury); Wolfgang Behnken, Art Director; Christoph Borgans, Reporter; Ingrid Eißele, Zeitenspiegel Reportagen; Heiko Gebhardt, Publizist; Anton Hunger, Publizist; Christian Jungblut, Reporter; Margot Klingsporn, Agentur Focus; Ingrid Kolb, Autorin; Georg Mair, Stellv. Chefredakteur ff; Ulrike Posche, Stern; Michael Schmieder, Gründer des Schweizer Demenz-Wohnheims Sonnweid; Rüdiger Schrader, Inhaber Creative Consulting Schrader; Alexander Smoltczyk, Der Spiegel.

Hansel-Mieth-Preis digital

Der Hansel-Mieth-Preis digital geht an Maria Feck (Text und Fotos) für ihre Multimedia-Reportage “Der Biss der Schwarzen Schlange”, erschienen in Spiegel Weitwinkel. Das Stück handelt vom Protest der Sioux-Indianer gegen die Standing Rock-Ölpipeline in North Dakota. Maria Feck erhält den Hansel-Mieth-Preis digital damit zum zweiten Mal in Folge.

Für den Hansel-Mieth-Preis digital, der 2018 zum vierten Mal verliehen wird, wurden 25 Bewerbungen eingereicht. Er ist ebenfalls mit 6.000 Euro dotiert.

Die Jury: Tilman Wörtz, Zeitenspiegel Reportagen (Vorsitzender der Jury); Christoph Borgans, Reporter; Anton Hunger, Publizist; Hannes Opel, Stuttgarter Zeitung; Bernhard Riedmann, Der Spiegel; Michael Schmieder, Gründer des Schweizer Demenz-Wohnheims Sonnweid; Isabel Stettin, Zeitenspiegel Reportagen.

Preisträgerin Maria Feck über die Geschichte hinter der Geschichte:

Was bedeutet Ihnen persönlich diese Geschichte?

Diese Reportage aus Standing Rock ist für mich eine Stellvertretergeschichte für die skrupellosen Vorgehensweisen von Großkonzernen, der Unterdrückung von Minderheiten und der immer noch anhaltenden Ungerechtigkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung Amerikas. Native Americans sind heute in der amerikanischen Gesellschaft kaum sichtbar. Viele Natives sagten mir, dass die Probleme und die Kämpfe, die sie führen, die gleichen sind wie vor zweihundert Jahren. In den meisten Medien gab es kaum Berichte über die Proteste in Standing Rock. Die meisten Infos über das, was in Standing Rock passierte, bekam ich aus den sozialen Medien. Der Protest in North Dakota begann mit einer Gruppe junger Sioux und brachte tausende Natives und Unterstützer zusammen. Ich war tief beeindruckt von den Menschen, die sich hier der Öl-Pipeline und dem DAPL-Konzern entgegenstellten. Da war Jaseliyn, eine junge Sioux, die seit einem Jahr in der Prairie zeltete. Da war Linda aus Hawaii, die ihr halbes Vermögen für ihren Einsatz für sauberes Trinkwasser und den Schutz der Umwelt ausgegeben hatte. Da war Quentin, ein ehemaliger Vietnam-Veteran, der sich von der US-Regierung betrogen fühlte und in Standing Rock das Gefühl hatte, sich endlich für etwas Sinnvolles einzusetzen. Es war spannend zu sehen, aus welch unterschiedlichen Gründen die Menschen sich in der Prärie North Dakotas zusammenfanden und doch alle für die gleiche Sache kämpften.

Wie lief die Recherche ab?

Durch einen vorangegangenen Besuch in einem Reservat in New York hatte ich von den Protesten in Standing Rock erfahren. Für Natives aus den gesamten USA war der Widerstand in Standing Rock ein bedeutender Moment in ihrer Geschichte. Viele versuchten den Protest aus der Ferne zu unterstützen, oder brachten Essenspenden, warme Kleidung und Zelte zu den Camps. Eine Frau, die in Standing Rock aufgewachsen war, gab mir den Kontakt zu ihrer Tante Tracey. Im Januar 2017 flog ich mit Unterstützung der iPad-Redaktion des Spiegel nach North Dakota. Am Tag meiner Ankunft in Bismarck, North Dakota, verkündete Donald Trump in seiner Inaugurationswoche, dass er den Bau der Pipeline wieder aufnehmen würde. Der Stopp, den Obama kurz vor seinem Amtsende noch umgesetzt hatte, wurde aufgehoben. Noch im Flugzeug herrschte mich eine Frau aus Bismarck an, was ich denn über die “idiotischen Demonstranten” berichten wolle. Ich habe einige rassistische Kommentare auf dem Weg ins Reservat gehört. Als ich in Standing Rock ankam, hielten dort immer noch hunderte Menschen bei bitterer Kälte aus. Die Polizei war sehr präsent, die ganze Zeit kreisten Hubschrauber über den Camps, der Handyempfang wurde lahmgelegt. Es herrschte eine permanente Anspannung und die Angst davor, dass das Camp geräumt werden könnte. Meine ersten Nächte verbrachte ich im Kasinohotel des Standing Rock Sioux Tribe, das die Anlaufstelle der Demonstranten war, um ins Internet zu kommen, zu duschen, zu essen und sich aufzuwärmen. Dort lernte ich viele Menschen kennen, mit denen ich dann die Camps besuchte, die nur wenige Kilometer entfernt lagen. Tracey, die Tante meines Kontaktes, war als Großmutter bei den Protesten gewesen und hatte sogar ein paar Nächte im Gefängnis verbracht, da sie einfach sitzen blieb, als die Polizisten sie zum Verlassen einer Feuerstelle aufforderten. Es gab viele Festnahmen von Demonstranten in dieser Zeit. Tagsüber verbrachte ich Zeit in den Camps, saß mit am wärmenden Ofen, ritt auf dem Pferd mit ein paar jungen Sioux durch den Schnee und aß in der Küche der Oglala aus Pine Ridge, in der es immer frittiertes Brot und warmen Tee gab. Die letzten Tage schlief ich in Traceys kleinem Bungalow im Standing Rock-Reservat. Dort wohnt sie mit ihren beiden Enkeln, die sie aufzieht, da ihr Sohn im Gefängnis sitzt und die Mutter der Kinder verschwunden ist. Wenn Tracey nachts nicht schlafen konnte, bat sie mich um ein paar Dollar, um ins Kasino zu fahren. Sie meinte, es wäre der einzige Ort, an dem sie abschalten könne.

Was waren die größten Herausforderungen?

Vor Ort wurde mir gesagt, dass die Polizei keine Unterschiede mache zwischen Journalisten und Demonstranten. Im Vorfeld war eine amerikanische Journalistin, die eine Gruppe von Demonstranten begleitet hatte, mit einer hohen Gefängnisstrafe bedroht worden. Deshalb war es besonders bei den Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstranten wichtig zu wissen, wann ich mich zurückzog. Es gab viele Festnahmen und bis heute sitzen einige der Demonstranten im Gefängnis. Die Situation in den Camps war sehr angespannt und die Polizei war sehr dominant. Es gab Gerüchte von Spionen, die sich ins Camp geschlichen haben könnten, um Unruhe zwischen den Menschen zu stiften. Eine Herausforderung war auch, dass die Lage immer unübersichtlicher wurde. Wer steht auf welcher Seite, wer traut wem? Zwar waren viele Camp-Bewohner beeindruckt, dass ich so einen weiten Weg auf mich genommen hatte, aber es gab auch Skepsis. Es brauchte Zeit und das Vertrauen der Menschen, damit sie mir ihre Geschichten erzählten.