Zeitenspiegel Reportagen

Hansel-Mieth-Preis in Fellbach verliehen

06.05.2016

Die Verleihung des Hansel-Mieth-Preises in Fellbach ist jedes Jahr gut besucht. Dieses Jahr aber war der Andrang so groß wie nie. Fast fünfhundert Gäste wollten die Preisträger sehen und hören. Besonders einen: den Schriftsteller Navid Kermani.

HM-Preis-Fellbach_img3 176xx_ev_113.jpgFoto: Eric Vazzoler

Navid Kermani, Jahrgang 1967, Sohn iranischer Eltern, in Siegen aufgewachsen, in Köln beheimatet, Autor erfolgreicher Bücher, Publizist, Essayist, wortmächtiger Schriftsteller, kenntnisreicher Orientalist und liberaler Muslim, Grenzgänger und Vermittler zwischen den Religionen. Es gibt viele Etiketten, die dem Weltbürger und Rheinländer Kermani angehängt wurden. Mit mehr als zwanzig Auszeichnungen und Preisen wurde Kermani geehrt, darunter ist auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den er vergangenes Jahr in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm.

Und nun: der Hansel-Mieth-Preis für seine Reportage „Der Einbruch der Wirklichkeit“, die im vergangenen Herbst im Spiegel erschien, „schnörkellos, wirkmächtig und berührend“, so die frühere Stuttgarter Sozialbürgermeisterin Gabriele Müller-Trimbusch in ihrer Laudatio, ausdrucksstark gelesen von der Schauspielerin Eva Hosemann (hier der Wortlaut der Laudatio). Kermani reiste auf einer der Flüchtlingsrouten von Budapest über Lesbos nach Assos in der Türkei, er reiste gegen den Strom und gegen die Erwartung, er schaute genau hin. So genau, dass ihm auch der magische Moment nicht entgeht, als ein fünfjähriges syrisches Mädchen einem kroatischen Polizisten über die blaue Uniform streicht, „mit der flachen Hand von der Schulter bis fast hinunter zum Bauch, als wäre er eine Kostbarkeit“. Kermani reiste gemeinsam mit dem Magnum-Fotografen Moises Saman, auch er ein Meister seines Fachs, „ein bescheidener, ruhiger Fotograf, der als der Beste bei Magnum gilt“, so Fotoredakteur Matthias Krug, der den Preis für Saman entgegennahm.

Für Navid Kermani, der jahrelang für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb und sich „immer noch als Berichterstatter versteht“, wie er sagte, ist der Hansel-Mieth-Preis der erste Journalistenpreis. Er freue sich über die Wertschätzung für das Handwerk des Berichterstatters, der hinfährt, hinschaut, hinterfragt, bevor er sich eine Meinung bildet. „Ich habe das Gefühl, egal, welche Zeitung man aufschlägt, welchen Sender man anschaut, ich werde überschüttet mit Meinung,“ so Kermani. Journalistische Berichte hingegen würden weniger, „die doch Voraussetzung sind, um eine Meinung haben zu können.“

Diese Notwendigkeit für jede Meinungsbildung werde aber selbst von den Redaktionen nicht mehr so geschätzt, weil die Reise zu den Schauplätzen aufwändig ist und teuer. Eine Reportage erfordere schon mal zwei Wochen Recherche, „und wenn man sparen will, spart man an dieser Stelle am schnellsten.“ Mit Meinungsbeiträgen seien die Seiten schneller und billiger gefüllt. „Aber das ist ein Journalismus, der uns nicht weiterführt.“

Kermani verstand sich auf seiner Flüchtlingsreise als teilnehmender Beobachter, der auch Widersprüche entdeckte und zuließ. Zurück von der Reise „ist es nicht so, dass ich eine klare Meinung habe, sondern dass ich eigentlich verwirrter bin als vorher“, bekannte er. „Es ist nicht so, dass alle Flüchtlinge wunderbare Menschen sind. Nein, es sind Menschen wie alle anderen, man ist berührt oder man ärgert sich.“ Genau diese Widersprüchlichkeit darzustellen, sei Aufgabe des Reporters.

Wie gut ihm das gelungen ist, unterstrich Gabriele Müller-Trimbusch, die seine Arbeit „heilsam verstörend“ nannte. Denn sie lasse die Leser nicht allein mit dem „vermeintlich Unabänderlichen“, sondern rege zur Reflektion an.

Ebenso die Arbeit der drei jungen Reporter, die den „Hansel Mieth Preis digital“ überreicht bekamen. Unter dem Titel „Exodus“ berichteten Coleen Jose, Kim Wall und Jan Hendrik Hinzel in einer webgestützten Reportage auf “süddeutsche.de” über die Bewohner der Marshall-Inseln, die durch den steigenden Meeresspiegel bedroht sind und deshalb ihre Heimat verlassen müssen - das neue Phänomen der Klimaflüchtlinge. „Die verstörenden Bilder eines einstigen Idylls verfehlen ihre Wirkung bei niemandem, sie erinnern uns auf eindringliche Weise daran, in EINER Welt zu leben,“ so Gabriele Müller-Trimbusch.

HM-Preis-Fellbach_img2 176xx_ev_024.jpgFoto: Eric Vazzoler

Verantwortung übernehmen, das war auch die Forderung von Christoph Palm, der erkennen ließ, wie sehr ihn die „drohende Spaltung Europas“ beschäftigt. Der Fellbacher Oberbürgermeister mahnte zu mehr „Wirklichkeitssinn“ im Umgang mit Flüchtlingen und nahm Partei für die Haltung der Bundeskanzlerin im vergangenen Sommer, als sie die Grenzen öffnen ließ. „Mitmenschlichkeit“, so der CDU-Politiker, „ist nicht der größte Fehler, den man einem Politiker anlasten kann“.

Palm, der in den vergangenen 16 Jahren maßgeblich dazu beitrug, dass die Erinnerung an die Fotografin Hansel Mieth im Gedächtnis der Fellbacher Bürgerschaft lebendig geblieben ist, hielt zum letzten Mal die Eröffnungsrede (hier der Wortlaut) bei der Preisverleihung; er tritt bei der nächsten Wahl zum Oberbürgermeister im Herbst nicht noch einmal an. Er mahnte in einem persönlichen Schlusswort, die Meinungsfreiheit zu achten, vor allem: sie mutig zu nutzen. Denn Meinungsfreiheit, so Palm, „ist ein Grundrecht, das nur durch Gebrauch seinen Wert erhält.“

HM-Preis-Fellbach-Palm 176xx_ev_203-1.jpgFoto: Eric Vazzoler

Reportage als Frühwarnsystem

Christoph Palm erinnerte in seiner Rede auch an eine Reportage, die vor zehn Jahren den Hansel-Mieth-Preis bekam und sich als hochaktuell erweist: In ihrem Beitrag „Das Dilemma des Commandante“, veröffentlicht in der Zeitschrift “mare”, beschrieben Dimitri Ladischensky und Francesco Zizola, wie der Chef der Küstenwache vor Lampedusa in einen unauflöslichen Zwiespalt gerät. Er soll einerseits Menschen aus Seenot retten, andererseits Europa vor Einwanderern schützen. „Damals schien dieses Thema weit weg“, so Palm. „Eigentlich war man froh, dass die damit verknüpften Probleme von Italien gelöst werden sollten.“ Die Flüchtlingskrise habe nicht erst begonnen, als Deutschland sie bemerkte, schrieb Navid Kermani in seinem prämierten Beitrag. Für Kermani ist diese Reportage der “mare”-Kollegen ein Beispiel für Reportertugend: relevante Themen zu erspüren und hinzufahren, „bevor es knallt“.

HM-Preis-Fellbach_img4 176xx_ev_120.jpgFoto: Eric Vazzoler