Zeitenspiegel Reportagen

Vom Glück des Reporters

08.05.2015

Die Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2015 in Fellbach.

Als die Journalistin Stephanie Nannen vom Absturz des German-Wings-Flugzeugs hörte, hatte sie, so erinnert sie sich, ein Bedürfnis nach Stille. Nach Raum, „um zu begreifen“.

Stille? Passt das zum medialen Getöse, zur Aufregung nach einem Ereignis, das nach Fakten schreit, nach schneller Einordnung, nach Antworten, die es ehrlicherweise noch gar nicht geben kann, vielleicht niemals geben wird?

„Wir können Tempo und Live-Ticker“, sagte die Enkelin des legendären stern-Gründers Henri Nannen. „Wie Stille geht, müssen wir dringend wieder lernen.“

Die Journalistin und Buchautorin sprach in ihrem Festvortrag zur Verleihung des Hansel-Mieth-Preises am Donnerstagabend im Fellbacher Rathaus vom Selbstverständnis der Journalisten. Mit Blick auf aktuelle Kritik an den Medien und Parolen wie „Lügenpresse“ forderte sie eine neue Standortbestimmung. Wofür stehen Journalisten? Was ist eigentlich ihr Job?

„Wer sich als Journalist mit dem Zustand allein begnügt und ihn nur schildert, ist bestenfalls ein Berichterstatter. Wer nur kritisch und ideologisch postuliert, ist eher Propagandist“, sagte sie.

Guter Journalismus bedeute „immer ein Stück Aufklärung“, er sei dazu da, den Lesern „die Welt begreifbarer, die Verhältnisse transparenter und damit das Leben bewusster zu machen“.

Dazu gehöre, anders mit Lesern umzugehen. „Vielleicht ist es aber so, dass wir den Lesern, den Zuhörern und Zuschauern besser vermitteln müssen, WIE wir arbeiten. Dass Wissen und Wahrheiten nicht einfach über uns kommen, sondern dass wir danach lange suchen.“

Bei der Preisverleihung im Fellbacher Rathaus wurden Beispiele für einen hinterfragenden, suchenden Journalismus, der seinen Gegenstand und seine Leser ernst nimmt, präsentiert.

Mit dem „Qualitätssiegel für Fotografen und Reporter“ (so der Fellbacher Oberbürgermeister Christoph Palm) wurden Autor Patrick Bauer und Fotograf Andy Kania für ihre lakonisch-humorvolle Reportage über Gäste und Bademeister des Berliner Columbiabades ausgezeichnet, das für seine Gewalteskapaden berüchtigt ist. Der Beitrag verzichtet bewusst auf jeden wertenden Unterton. „Das Tolle war, dass ich diese Ratlosigkeit, die ich nach der Recherche spürte, auch so schildern durfte“, sagte Preisträger Patrick Bauer.

Ausgezeichnet wurden erstmals auch zwei Reporterteams für Multimedia-Reportagen im Internet. Uta Keseling und Reto Klar zeigen in ihrem Beitrag „Unsichtbar - vom Leben auf der Straße“ Aufnahmen von Obdachlosen, die ihre Persönlichkeiten auf ganz besondere Weise erlebbar machen. „Eine neue Form des Geschichtenerzählens“, so Jury-Mitglied und Laudatorin Amrai Coen. Auch dies eine Reportage, die Neugier, genaues Hinsehen und Zeit erforderte - und eine Redaktion, die diese Zeit gewährt.

Leider sei „kaum eine Redaktion bereit, zu experimentieren“, stellte Preisträger Christian Werner fest. „Es ist aber existenziell wichtig, neue Wege zu gehen.“ Der Fotograf reiste gemeinsam mit Autorin Isabelle Buckow nach Madagaskar, um dem Schicksal von Pestkranken nachzuspüren - auf eigene Faust und eigene Kosten, weil sie das Thema für wichtig hielten. Ihre Multimedia-Reportage „Schwarzer Tod“ wurde ebenfalls mit dem Hansel-Mieth-Preis digital ausgezeichnet. Er wünsche sich, so Werner, „ein Umdenken, um einen gemeinsamen Weg aus der Krise des Journalismus zu finden.“

Einen möglichen Weg zeigte Festrednerin Stephanie Nannen in Fellbach auf: Der Journalist müsse seine Leser ernst nehmen. Und im übrigen genau das tun, woran er glaubt. „Mein Großvater Henri Nannen hat mir das vorgelebt“, so Nannen. „Hat mir gezeigt, dass Losgehen, Hinschauen, Hinhören und dann Zurückbringen, Aufschreiben, wie die Welt riecht, wie sie schmeckt und schillert und stinkt und verreckt, Glück bedeutet.“

Das Glück des Reporters. Und manchmal auch das seiner Leser.

alt text"Pressefreiheit will gelebt werden, wenn sie existieren soll", so Festrednerin Stephanie Nannen bei der Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2015. "Sie muss umkämpft und erkämpft werden – jeden Tag. Gegenüber der Politik und gegenüber den Verlagen." | Foto: Eric Vazzoler

alt textFotograf Andy Kania (links) und Autor Patrick Bauer erhielten für ihre Reportage "Nass und Gewalt" (Süddeutsche Zeitung Magazin) den Hansel-Mieth-Preis 2015 aus den Händen von Laudatorin Amrai Coen. | Foto: Eric Vazzoler

alt textIsabelle Buckow (Mitte) und Christian Werner wurden für ihre Multimedia-Reportage "Schwarzer Tod" (süddeutsche.de) mit dem Hansel-Mieth-Preis digital ausgezeichnet. | Foto: Eric Vazzoler

alt textEbenfalls mit dem Hansel-Mieth-Preis digital ausgezeichnet wurden Max Boenke, Reto Klar, Uta Keseling und Julius Tröger (v.l.n.r.) für die Multimedia-Reportage "Unsichtbar – vom Leben auf der Straße" (www.morgenpost.de). | Foto: Eric Vazzoler

alt textDie Verleihung des Hansel-Mieth-Preises und, erstmals, des Hansel-Mieth-Preises digital, fand am 7. Mai im Großen Saal des Fellbacher Rathauses statt. | Foto: Eric Vazzoler

Die komplette Rede von Stephanie Nannen bei der Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2015 in Fellbach:

Verehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Fellbacher, sehr geehrte Preisträger, liebe Jury, liebe Mittäter bei der Agentur Zeitenspiegel, verehrte Gäste.

Ich finde es ganz besonders freundlich, dass Sie mich hierher eingeladen haben – eine Stadt, in der der Wein prächtig gedeiht – wer möchte da nicht gern zu Gast sein? Dass Sie mir nun auch noch zuhören mögen, ehrt mich. Danke, sehr.

Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Denn um die geht es mir im Kern – und vielleicht können wir uns mit der Antwort dazu ein paar Minuten beschäftigen. Sie lautet: Was tun wir hier? Hier in diesem Festsaal – und verleihen Preise an Reporter, an Menschen, die in Text und Bild und Ton Geschichten erzählen.

Sie und ich, Journalisten, Meinungen-Nachrichten-Wahrheiten-Verbreiter, Leser, Zuhörer, Menschen – warum sind wir hier? Feiern wir Leistungen, die ohne Frage erheblich sind, die aber vielleicht niemand mehr braucht? Ergötzen wir uns an etwas, das wir schön, großartig, beeindruckend finden, das aber nur noch uns interessiert? Geschichten – was ist das schon? Reportagen? Da bringen zwei nach vielen Tagen etwas zurück, was doch– wie zum Beispiel die Pest auf Madagaskar – so schön weit weg war? Hätte es uns Lesern nicht zur Not gereicht, per Mausklick die nachrichtlichen Fakten zu erfahren, und die Katastrophe, die Menschen nicht so nah herankommen zu lassen? Und dann der Aufwand? Muss denn das sein? Ich hörte, „die Branche“ sei kaputt, Print tot, digital doof und das, was wir schaffen und lieben heute auch in 84 Zeichen – der durchschnittlichen Länge einer sms nämlich - zu erzählen? Sind wir schon Teil der Vergangenheit und können uns nur nicht davon lösen?

Nein, meine Damen und Herren, zum Abschied nehmen sind wir gewiss nicht hier. Im Gegenteil.

Sehen Sie, ich bin mit dem Wissen und in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Geschichtenerzählen überhaupt das Größte ist. Geschichten – so erzählt, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre ein Teil davon, mindestens als Beobachter dabei. Mein Großvater Henri Nannen hat mir das vorgelebt. Hat mir gezeigt, dass Losgehen, Hinschauen, Hinhören und dann Zurückbringen, Aufschreiben, wie die Welt riecht, wie sie schmeckt und schillert und stinkt und verreckt, Glück bedeutet. Dass wer mit der unbelichteten Seelenplatte und einer gewissen Demut raus geht, immer wieder überrascht wird. Von Nannen und seinen Kindern, den Sternreportern, konnte ich lernen, dass Abenteuer auf den warten, der sich um sie bemüht und der bereit ist, sich auf sie einzulassen. Ganz gleich, ob er dazu nach Madagaskar reist oder nur um die Ecke geht. Zum Beispiel in die Berliner Bahnhofsmission oder in den Berliner Stadtteil Neukölln.

Mein Großvater hat mir das beigebracht, indem er Geschichten erzählte, nicht indem er mir Vorträge über Journalisten hielt. Er konnte die Klangfarbe seiner Stimme verändern und so beim Sprechen Bilder malen. Jeder Ton eine Farbe. Auf diese Weise veränderte sich jedes Mal der Raum um uns herum, die Geschichte kam zu uns. Ihre Protagonisten spazierten durch unser Wohnzimmer – gleich ob es Willy Brandt oder Lieschen Müller war.

Und das lag schlicht an der Art meines Großvaters zu erzählen. Es kommt auf das Gefühl für eine Geschichte an, auf die Empathie, die man ihr entgegenbringt und die dann den bloßen Fakten – die ordentlich recherchiert sein müssen – Leben einhaucht.

Ich wusste früh von dem Glück des Reporters, der all das sehen darf und der ein Gespür dafür entwickelt, welche Worte, welche Fragen, welches Licht und welche Kameraeinstellung ihm helfen würden, das Gesehene zu transportieren. Davon erfährt, wer ihren Geschichten lauscht. Davon kann erfahren, wer Bauer und Kanias Text und Bilder liest, wer Reto Klar und Uta Keseling wahrnimmt, wer Isabelle Buckow und Christian Werner folgt. Glück, das sich mit der Hoffnung verbindet, die Welt ein kleines bisschen verständlicher und ein kleines bisschen weniger gemein zu machen.

Wer sich als Journalist mit dem Zustand allein begnügt und ihn nur abschildert, ist bestenfalls ein Berichterstatter. Wer nur kritisch und ideologisch postuliert, ist eher Propagandist. Unser Beruf bedeutet immer ein Stück Aufklärung. Ich bin davon überzeugt, dass den wirklichen Journalisten der Wille treibt, seinem Leser die Welt begreifbarer, die Verhältnisse transparenter und damit das Leben bewusster zu machen.

Aufklärung heißt für ihn, ideologischen Qualm und parteipolitischen Nebel zu vertreiben, hinter das Herrschaftswissen und die Geheimcodes von Behörden und Wissenschaften zu dringen, Illusionen und Verschwörungstheorien zu bekämpfen und die Dinge beim Namen zu nennen. Dafür steht die Agentur Zeitenspiegel. Und auch der Hansel-Mieth-Preis steht dafür.

In der Geschichte von Bauer und Kania sagt Zven, der 30-jährige Bademeister des berüchtigten Neuköllner Schwimmbades: „Wenn wir niemandem mehr eine Chance geben, wenn wir alle unter Generalverdacht stellen, dann müssen wir anfangen, jeden mit schwarzen Haaren und braunen Augen abzuweisen. Dann geben wir auf. Wir müssen doch wenigstens versuchen, miteinander klarzukommen. Sonst sind wir gescheitert.“ Zven sagt das, weil er eine Haltung hat. Und wir erfahren davon, weil Bauer und Kania sie veröffentlichen.

Geschichten sind auch für den Leser Glück – weil der beim Lesen in neue Welten, vor allem Gedankenwelten eintauchen kann, weil er eigene Grenzen versetzt, seinen Horizont erweitert, selbst mitreisen kann, mitlernen, kennenlernen, mit bangen, sich mit freuen darf. Und vor allem eins: mitdenken, abwägen, kritisieren, hinterfragen, mehr lesen, anderer Meinung sein kann. Nur auf diese Weise gelingt es doch, mehr zu verstehen, einander weniger fremd zu sein. Und das wäre doch ein großer Erfolg.

Vielleicht ist es aber so, dass wir den Lesern, den Zuhörern und Zuschauern besser vermitteln müssen wie wir arbeiten. Dass Wissen und Wahrheiten nicht einfach über uns kommen, sondern dass wir danach suchen, lange suchen, weil wir schon gar nicht alles gleich unbesehen glauben, das man uns glauben machen will. Manchmal tun wir das unter Einsatz unseres Lebens, sehr oft unter großen und kleineren Risiken. Was den Reportern Buckow und Werner durch den Kopf ging, als sie vor den ungesicherten Holzregalen standen, in denen die Pesterreger der vergangenen Jahrzehnte aufbewahrt werden, können wir erahnen, weil sie uns die Möglichkeit dazu geben. Hätten Sie da stehen mögen?

Und Bauer und Kania: Die beiden waren fünf Tage in diesem Freibad – so eine Geschichte erfährt man nicht in einer Nacht am Schreibtisch. Vielleicht müssen Journalisten die Wege nachvollziehbarer machen und weniger von oben herab dozieren. Vielleicht müssen wir uns wieder mehr Gedanken über den Leser und dessen Sorgen, Vorlieben und Wege machen als darüber, was der Verleger meint. Den Leser dort abholen, wo er steht – hieß das früher.

Gehen wir doch hin, öffnen wir auch uns – reißen wir uns die Brust auf und zeigen wir, was drin steckt. Wir müssen näher an den Leser heran und ich glaube, dass es dabei nicht wichtig ist, zu wissen, wo er was zu welchem Preis einkauft, wie viel oder wenig er liest, ob er einen Realschul-Abschluss oder ein Politikstudium absolviert hat. Statistiken helfen da wenig.

Entscheidend ist doch, zu verstehen, wie es in der Seele des Lesers aussieht, wie er fühlen könnte, was er wahrscheinlich sieht, wenn er morgens aus dem Haus geht und wie es ihm wohl geht, wenn er abends heimkehrt.

„Um ein guter Fotograf zu sein”, hat Hansel Mieth gesagt, „musst du fühlen, was Menschen fühlen, wenn sie ganz unten sind.” Die Preisträger Reto Klar und Uta Keseling haben in ihrer berührenden Geschichte „Unsichtbar. Vom Leben auf der Straße“ genau das gemacht.

Wir müssen die wahre Welt der Menschen kennen, wenn wir unseren Lesern mit unserer Wahrheit kommen wollen.

Die eine, reine Wahrheit existiert natürlich nicht – auch nicht für Journalisten. Vollkommene Objektivität gibt es nicht. Und auch wir irren uns. Das sei klar gesagt und muss uns so deutlich vor Augen stehen wie dem Leser.

Schon in dem Augenblick, in dem der Reporter etwas sieht, etwas hört, verändert sich die Wirklichkeit. Er oder sie hat eine eigene Geschichte, eigenes Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen die mit dem neu Gesehenen und Gehörten abgeglichen werden. Für den einen bedeutet ein sattes Rot ein köstlicher Rotwein, bedeutet Liebe, Leidenschaft vielleicht noch, etwas Angenehmes.

Der zweite sieht darin Aggression, Angriff sicherlich, etwas, dem man sich entzieht. Zwei Reporter im selben Raum können schon durch die kleinste Beeinflussung vollkommen Unterschiedliches wahrnehmen. Gesehenes als Wahr nehmen.

Allmächtig sind wir nicht. Und nicht unfehlbar. Auch wenn das oft und immer öfter von uns erwartet wird.

Wenn ich dem zornentbrannten RUF, der in Deutschland in den vergangenen Wochen und Monaten erklang, nachhorche, so bin ich doch erschrocken. „Lügenpresse“ hallt es da. Die das sagen, sehen die Presse als das größte Übel im Lande, neben „der Wirtschaft“ und „der Politik“. In vieler Leute Augen sind wir selbstherrlich, unreflektiert, fremd- und interessenbestimmt, da sind wir frei von Moral und Ethik, wenn es zum Beispiel um Flugzeugabstürze geht, Klick-Zahlen-gesteuert, Schreiberlinge – sicher manipuliert.

Ist da was dran? Müssen wir vielleicht inne halten, uns nicht immer weiter beschleunigen, bis dann am Ende weder eine Geschichte noch überhaupt nur eine Nachricht überbleibt? Ich hatte – als die Nachricht vom Absturz der German Wings Maschine kam – ein Bedürfnis nach Stille. Nach Raum zum Begreifen. Wie kann man so schnell wissen, was ein solches Unglück mit einem macht? Was es mit den Menschen macht, denen wir etwas erzählen wollen? Stille wäre gut gewesen. Ich glaube, es ging nicht nur mir so.

Wir können Tempo und Live-Ticker – wie Stille geht, müssen wir dringend wieder lernen.

Sind wir Journalisten von heute, die wir uns nicht mehr trauen, unseren Verlagsmanagern – ja oft nicht einmal mehr unseren Chefredakteuren – die Stirn zu bieten, Handlanger der Macht? Werden wir aus Angst um unsere Arbeitsplätze zu Gehilfen böser Mächte? Als solche werden wir zumindest in den sozialen Medien, Bloggs und Leserbriefen bezeichnet.

„Lügenpresse“ schimpfen sie uns. „Lügenpresse“ – das Wort klingt nach. Heute, 70 Jahre nach Kriegsende.

„Sie wissen es nicht besser“ – könnten wir jenen entgegenhalten, die das Wort verwenden, mit dem die Nazis solche Zeitungen diffamierten, die sich gegen ihr verbrecherisches Tun wandten. „Sie wollen nur ihrem Unmut Raum geben“, sagen Manche Verständnis heischend. Ist das so?

Ist es dann halb so schlimm? Wenn nur Unwissenheit dahinter steckt. Und was bedeutet das für den Reporter? Nimmt er es hin?

Dies auf einen Mangel an Bildung zu schieben wäre ein Leichtes – auf Polemik als Ventil für Ängste, Frustration, Hoffnungslosigkeit, auf hasserfüllte Unsachlichkeit aus Mangel an anderer Ausdruckskraft. Man könnte sich umdrehen und hoffen, dass es irgendwann besser würde. Erleichtert wäre man nicht.

ICH finde, dass wir uns um diese Aggressionen kümmern müssen. Uns nicht sagen dürfen, es seien ja nur ganz Wenige und eben nicht DAS Volk. Wieviele Leser haben wir denn? In Relation zum Volk doch auch „ganz wenige“.

Ich glaube, dass wir Journalisten den Angriffen auf uns mit unserer Arbeit begegnen, dass wir uns besinnen müssen. Auf unsere Aufgaben. Auf unsere Pflichten, auf unser Können – auf unsere Chancen auch. Ich finde, dass wir voller Stolz und Leidenschaft daran glauben müssen, dass unser Job eben nicht bedeutungslos ist, und dass zu TUN, was wir tun einen Unterschied macht. Jetzt erst recht.

Und Sie lieber Leser, glauben Sie mit uns!

In einer Zeit, in der einerseits alles gläsern erscheint, keine Information nicht zugänglich zu sein scheint. In einem Land, in dem beispielsweise ein Bundesnachrichtendienst möglicherweise dabei geholfen hat, einen europäischen Freund zu verraten – in dieser Zeit ist sorgfältige Recherche, sind Journalisten gefragt, um herauszufinden, was wirklich wahr ist. Journalisten sind es übrigens auch, die Bilder aus Syrien mitbringen, sodass wir uns ein Bild machen können. Reporter haben immer wieder nachgefragt, wie Herr Hoeneß es nun genau mit der Steuer hält. Und es sind Fotografen und Autoren, die festhalten, wie man in Russland mit homosexuellen Menschen umgeht.

Wieviel wäre über Emanzipation gesprochen worden, hätten nicht Journalisten darauf bestanden? Es waren Journalisten, die Themen wie Demenz, Depression und Alter hinter der vorgehaltenen Hand hervor geholt haben.

Alles, worüber wir Journalisten immer wieder reden und schreiben wird mehr und mehr Teil des Alltagslebens. Wir befreien Lebensbereiche, über die zu sprechen schwer fällt, von Tabus. Einfach indem wir immer wieder davon anfangen.

Es hat viel Sinn, heute noch Journalist zu sein.

In einem Jahr, in dem sich manche schon nicht mehr daran erinnern wollen, was vor mehr als 70 Jahren in Deutschland geschah, braucht es Reporter, die die Geschichten der Opfer und die der Täter weiter erzählen.

Und in einer Zeit, in der braune Gesinnung unter dem Deckmäntelchen des Schutzes und der Fürsorge schleichend Einzug in alle Schichten der Gesellschaft genommen hat, in der Flüchtlingsheime angezündet werden und ein ganzes Land nicht weiß, was es nun tun soll, sind Menschen wichtig, die die Fakten verbreiten. Damit wir alle unter Zugzwang geraten, eine Haltung einzunehmen. Wenigstens das.

Wir Journalisten müssen es weiterhin ganz genau nehmen – vollkommen gleichgültig, ob wir unsere Artikel auf Papier drucken oder sie online stellen, ob wir sie sprechen oder ob wir mithilfe unserer Bilder zeigen, was geschieht und warum es geschieht.

Und lassen wir uns doch bitte nicht auf diesen elenden Kampf zwischen Print und Digital ein – den haben wir nicht nötig, und der Leser hat nichts davon. Es sind doch nur zwei Wege, die dasselbe Ziel vor sich haben. Allerdings bedeutet „Digital“, dass wir Journalisten nicht mehr auf einer Säule stehen, auf einer Kolumne, sondern mitten im Diskurs. Im Diskurs mit dem Leser. Wir sind anfassbarer, angreifbarer geworden. Das fordert uns heraus, und zwar zu noch mehr Akribie. Uns alle.

Halten wir doch zusammen! Ergänzen wir uns! Lernen wir voneinander! Konzentrieren wir uns auf unsere Arbeit und auf diejenigen, die sie zu schlecht bezahlen, liebe Kollegen!

Sagen wir es laut, dass da ein Unterschied ist zwischen dem Journalisten und dem PR-Mann, und dass Recherche immer noch Zeit, Geduld und Geld braucht. Dass Sprache einen Sinn ergibt. Und dass man inne halten muss, um genau das wiedergeben zu können, was war.

Ausdauer, Gespür, Konzentration, Talent und Einsatz gibt es nicht zum Nulltarif. Nicht für die Verlage. Auch nicht, und das muss ich so deutlich sagen, für Sie, lieber Leser.

Dieser Gedanke bringt mich auf etwas anderes, das ich in den Jahren mit meinem Großvater begriffen habe. Nämlich dass Pressefreiheit nicht einfach nur ein Wort ist, ein paar Buchstaben, die seit 1949 wieder in unserem Gesetz stehen und die schon deshalb eine Wirkung hätten. Presse- und Meinungsfreiheit ist im Grunde seit 1832, seit dem Hambacher Fest, zu dem Journalisten einluden, unsere Aufgabe. Und sie ist bestimmendes Element der Demokratie. Siebenpfeiffer und Wirth, die beiden Journalisten von damals gingen übrigens ins Gefängnis für ihre Überzeugung. So wie Rudolf Augstein 130 Jahre später auch. Seien WIR nicht weniger überzeugt!

Pressefreiheit will gelebt werden, wenn sie existieren soll. Sie muss umkämpft und erkämpft werden – jeden Tag. Gegenüber der Politik und gegenüber den Verlagen. Aber auch gegenüber der Gesellschaft, die mit Tabus und schlechten Nachrichten nicht umgehen mag. Und die nach Erkenntnissen der Forschungsinstitute heute eher dazu bereit wäre, die Meinungsfreiheit zu opfern, als ihre vollkommene Sicherheit einzubüßen – die es ohnehin nicht gibt. Und ich spreche nicht von anderen politischen Systemen – nicht von China, Syrien, Turkmenistan. Auch hier bei uns ist Pressefreiheit keine Selbstverständlichkeit, meine Damen und Herren. Die Nicht-Regierungs-Organisation Reporter ohne Grenzen kritisierte wiederholt, dass seit 9/11 die führenden demokratischen Staaten destabilisiert seien und auch in diesen Ländern die Freiheitsrechte immer weiter eingeschränkt würden.

Es geht die Rede von Behörden, die unliebsame Anfragen verschleppen, von Einflussnahme durch Anwälte und Lobbyisten, von Nachrichtensteuerung und –filterung durch Google und Facebook. Aber auch ein nicht ausreichender Informantenschutz wäre in unserem Land ein Thema. So gesehen – wenn Freiheit eine Farbe hat, dann ist es: Schwarz auf Weiß.

Damals, nach dem Krieg, ging es Journalisten vor allem darum, die äußere Pressefreiheit zu verteidigen – gegen die Versuche und Angriffe aus den Reihen besonders der konservativen Politik um Konrad Adenauer. Aber schon in den 60er Jahren war immer wieder davon zu hören, dass auch die innere Pressefreiheit bedroht sei.

Sie wissen ja: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ So hieß es damals.

Wo stehen wir heute? Zweihundert Leute sind es nicht mehr. Und: Es gibt keine Verleger mehr. Wenige höchstens noch, denen es um Journalismus geht, sind uns geblieben. Vorstandschefs, die Zeitungen – ob in gedruckter oder digitaler Form – wie Zahnpasta oder Körpercreme verkaufen, Manager, die möglichst häufig wiederverwendbaren „content“ einpreisen und die auch den nur noch als eine von vielen Sparten eines Handelsunternehmens sehen; das sind in meinen Augen keine Verleger.

Ich habe gelernt, dass Freiheit nach Mut verlangt und dass Worte und Meinungen, die gesagt werden wollen, Mut und Haltung benötigen. Pressefreiheit – schon gar die innere – ist kein blühender Garten, in dem man spazieren geht, während einem die Trauben in den Mund wachsen, und um den sich schon irgendjemand anderes kümmern wird. Da muss man selbst den Mund auf- und den Rücken gerade machen.

Die Trennung von Verlag und Redaktion ist heute Legende. Ich finde aber, dass es für den Journalisten an der Zeit ist, sich ein bisschen davon zurückzuerkämpfen.

DER Journalist, von dem ich hier spreche, muss aufhören oder gar nicht erst anfangen, Ware für Manager zu produzieren, die unsere Arbeit nicht schätzen und unsere Produkte nicht lieben. Oft genug wissen sie gar nicht, was wir tun.

Der Journalist muss bleiben bis die Geschichte stimmt, er muss gründlich sein, sorgfältig, genau; er muss seinen Leser suchen, sich selbst zurücknehmen, sich der großen Verantwortung bewusst sein, die es bedeutet, jeden Tag oder jede Woche, jeden Monat – oder meinetwegen einmal in der Stunde zu seinem Leser zu sprechen. Er muss dafür sorgen, dass auch jüngere Generationen wissen, was gemeint ist, wenn von Qualität im Journalismus die Rede ist. Er muss wissen, dass nicht das Frühstück mit dem Vorstandschef ihn ehrt, sondern Lieschen Müller, die ihrem Mann beim Abendessen von einer Geschichte erzählt, die sie gelesen hat.

Und er darf sich nicht abwenden, wenn er als Teil der sogenannten „Lügenpresse“ beschimpft wird.

Im Gegenteil, er muss sich gerade dieser Geschichte annehmen. Nicht nur, weil ein „das wird man ja wohl noch sagen dürfen…“ salonfähig geworden ist. Nicht nur, weil er auch in seinem Bekanntenkreis oder in der Nachbarschaft Äußerungen und Töne vernimmt, die so gar nicht mit Freiheit und Gleichheit in Einklang zu bringen sind, und die aber auch nichts mit Nächstenliebe und Verantwortungsbewusstsein gebildeter, angeblich liberaler Europäer zu tun haben.

Sondern besonders deshalb, weil WIR – eine liberale Presse – ihren Anteil daran haben können, dass Wahrheiten ausgesprochen werden, dass Fakten transportiert werden – dass Licht ins Dunkel kommt. Und dass die Menschen da draußen die Möglichkeit haben, selbst zu urteilen, zu erkennen, zu sehen, wie die Wahrheit aussieht. Wir können etwas ändern. Wenn wir jeden Tag unser Bestes geben und unseren Job leidenschaftlich ernst nehmen.

Und Sie, liebe Leser können etwas ändern, indem Sie unsere Arbeit wert schätzen.

Um uns dessen zu vergewissern, sind wir hier, liebe Kollegen, liebe Leser, verehrte Gäste. Ist das nicht ein Glück?

Haben Sie herzlichen Dank.