Zeitenspiegel Reportagen

Zeitenspiegel bei Tagung "Opfer und Medien"

22.10.2013

Kurz nachdem ein 17-Jähriger im März 2009 insgesamt 15 Menschen und anschließend sich selbst getötet hatte, belagerten hunderte Fernsehreporter, Fotografen und Printjournalisten die Stadt Winnenden. Für die Angehörigen der Opfer ein zweiter Schock. „Kamerateams filmten die Eltern von ermordeten Kindern, Reporter standen in unserem Vorgarten“, erzählte die Mutter eines der getöteten Mädchen am vergangenen Wochenende in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Zwei Tage lang diskutierten 90 Teilnehmer – Journalisten, Psychologen, Juristen, Sozialpädagogen, Zeugenbegleiter und Schüler der Zeitenspiegel-Reportageschule Reutlingen mit Menschen, die Gewalt erlebt haben, über die Medienberichterstattung danach.

Initiiert wurde die Fachtagung „Opfer und Medien“ von Rechtsanwalt Jens Rabe, der Sozialpädagogin Tina Neubauer und den Zeitenspiegel-Autoren Ingrid Eißele und Rainer Nübel. Deutlich wurde während der Konferenz vor allem eins: Es ist oft schwierig, die richtige Balance zu finden zwischen den Bedürfnissen der Medienvertreter und den Anliegen der traumatisierten Opfer. Journalisten wollen wissen, warum ein Verbrechen geschah. Deshalb möchten sie möglichst schnell und möglichst nah an das Umfeld von Täter, Opfer und Augenzeugen herankommen. Journalisten brauchen Stimmen und Bilder, Fakten und Emotionen. Die Betroffenen haben das furchtbare Ereignis noch kaum begriffen oder verarbeitet, sie schwanken zwischen Mitteilungsdrang und Ruhebedürfnis. Lesen sie in der Zeitung ihre eigenen Worte, sehen Fotos, die sie an den Tatablauf erinnern, kann sie das zum zweiten Mal traumatisieren. Wenn in einem Zeitungsartikel Details eines Verbrechens ausgebreitet werden, so sei das immer eine Grenzverletzung, erklärte eine Frau, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden ist. Nach einem Auftritt in den Medien ende die Privatheit und Leser oder Fernsehzuschauer stellen sich vor, was den Betroffenen vom Täter zugefügt wurde.

„Ich rate deshalb in den ersten Tagen Medienkontakte zu vermeiden“, sagte Rechtsanwalt Jens Rabe. Derzeit vertritt er als Nebenkläger im Münchner NSU-Verfahren Semiya Simsek, die Tochter von Enver Simsek, der mutmaßlich von Neonazis ermordet wurde. Erst wenn der Schock überwunden ist, entwickle er mit seinen Mandanten eine Medienstrategie, so Rabe. Semiya Simsek ging in die Öffentlichkeit, um ihren Vater zu rehabilitieren. Der türkischstämmige Blumenhändler wurde von der Polizei jahrelang zu Unrecht verdächtigt, vor seinem Tod in kriminelle Geschäfte verstrickt gewesen zu sein. Mit Interviews und Auftritten gelang es Semiya Simsek, das Ansehen ihres Vaters wiederherzustellen.

Nicht immer funktioniert die Zusammenarbeit mit Medien so reibungslos. Manche Opfer fühlen sich verletzt und benutzt, wenn in den Berichten, in denen sie zu Wort kommen, auch der Täter auftaucht. Deshalb wünschte sich eine Frau der Organisation „Glasbrechen“, die als Schülerin von einem Lehrer der Odenwaldschule missbraucht worden war, dass sie Veröffentlichungen vorher lesen kann. Ein häufiges Anliegen von Opfern, das Jurist Rabe unterstützt. „Lassen Sie sich darauf ein, es geht dabei nicht um Zensur“, appellierte er an die Medienvertreter. Meist werde nicht mehr geändert als ein „halbes Komma“, aber die Betroffenen könnten sich vorbereiten. Für viele Journalisten berührt das jedoch ein Kerngebiet ihrer Arbeit. „Wir lassen Interviews und Zitate von unseren Gesprächspartnern immer gegenlesen“, betont Steffen Haug, Chefredakteur von Spiegel TV. Aber einen kompletten Beitrag gebe er vorher nicht heraus. Denn der enthalte möglicherweise auch Informationen, die andere Personen betreffen. Florian Güßgen, Leiter des Deutschland-Ressorts beim stern, sieht das ähnlich. Über Gewichtung von Protagonisten und Zitaten entscheide allein der Journalist. „Empathie mit den Opfern ist selbstverständlich, aber Medien vertreten nicht deren Interessen, das machen Anwälte oder Opferschutzverbände“, betonte Güßgen.

Beate Lakotta, Reporterin beim Spiegel, erklärte, dass sie schon mal vorab über den Inhalt ihres Textes informiere. „Wenn jemand Furchtbares erlebt hat und mit mir über seine Gefühle spricht, dann kann ich auch Einblick in meine Arbeit geben“, sagte sie. Für Ursula Gasch, Diplom-Psychologin und Kriminologin aus Tübingen, resultieren Missverständnisse zwischen Medien und Opfern auch aus der mangelnden Kenntnis über den Seelenzustand von Betroffenen. „Es fehlt vielen Journalisten an einem Grundverständnis im Bereich Psychotraumatologie“, kritisiert sie. Laut Ursula Gasch erleben hierzulande jährlich rund 4,5 Millionen Menschen potentiell traumatische Situationen, meist sind das Verkehrsunfälle. Aber ein Viertel der Ereignisse, die möglicherweise zu seelischen Verletzungen führen können, sind Straftaten. „Unsensible Berichterstattung kann eine Posttraumatische Belastungsstörung begünstigen“, warnt die Psychologin. Zeitenspiegel-Autorin Ingrid Eißele, die für den stern schreibt, plädierte dafür, auf jeden Druck zu verzichten: „Lassen wir Journalisten uns Zeit bei solch sensiblen Recherchen, dann steigt die Qualität der Berichterstattung“, ist sie überzeugt. Und was wünschen sich die Opfer von den Medien? „Journalisten sollten bei ihrer Arbeit auch einmal die Perspektive wechseln und sich in die Lage der Opfer versetzen“, sagte eine Betroffene von sexualisierter Gewalt.