Zeitenspiegel Reportagen

"Eine diffuse Wut auf die Welt"

Erschienen auf "stern.de", 15. Juli 2015

Von Autorin Ingrid Eißele

Der mutmaßliche Amokläufer von Tiefenthal, der am Freitag aus dem Auto heraus zwei Menschen erschoss, soll wahngestört sein. Peter Winckler, Gerichtspsychiater und forensischer Gutachter aus Tübingen, über die Angst vor psychisch Kranken.

Bernd G. war Krankenpfleger und Sportschütze. Ein vermeintlich unauffälliger Mann - bis zum vergangenen Freitag. An diesem Tag erschoss der mutmaßliche Amokläufer zwei Menschen aus seinem Cabrio heraus. Was macht Menschen wie Bernd G. zu Tätern? Peter Winckler arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Gerichtspsychiater und forensischer Gutachter und beschäftigt sich regelmäßig mit Tötungsdelikten. Für den stern ordnet er den Fall ein.

Herr Winckler, der 47-jährige Amokläufer aus Franken soll in einem “bizarren Wahnsystem” gelebt haben.

Als die Meldung im Radio kam, war mein erster Gedanke: Das ist kein typischer Amoklauf gewesen, sondern die Tat eines psychisch Kranken, vermutlich psychotischen Täters.

Das müssen Sie erklären.

Amokläufe sind in der Regel willkürliche Handlungen, ohne dass es ein Motiv gäbe. Es geht häufig um eine eher diffuse Wut auf die Welt.

Sehen Sie hier keine Willkür? Der mutmaßliche Täter hat auf fremde Menschen geschossen und zwei davon getötet.

Wenn er während einer akuten Psychose Stimmen hörte oder religiöse Fantasien hatte, wäre es kein Amoklauf mehr im engeren Sinne. Denn dann hätte er ein - wenn auch verrücktes - Motiv gehabt. So lange man nicht genau weiß, welches Motiv der Mann hatte, wäre ich vorsichtig mit der Bezeichnung Amoklauf.

Wie würden Sie diese Bluttat stattdessen bezeichnen?

Es kann auch ein durch einen Wahn motiviertes, das heißt, durch eine Psychose geprägtes Tötungsdelikt gewesen sein.

Er hatte noch 200 Schuss Munition im Auto. Die Tat hätte also noch viel schlimmer enden können. Und man fragt sich: Lässt sich so ein Krankheitsschub erkennen?

Bisher weiß man noch zu wenig über die Krankheitsgeschichte. Dass jemand mit 47 Jahren erstmals Wahnvorstellungen entwickelt, ist allerdings ungewöhnlich, denn eine schizophrene Psychose, falls es sich hier um diese Diagnose handelt, beginnt normalerweise viel früher. Das typische Alter für den Beginn einer schizophrenen Psychose liegt zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren. War er in psychiatrischer Behandlung? Es gibt allerdings vereinzelt versteckte wahnhafte Entwicklungen, die lange unbeobachtet bleiben können. Der Betroffene macht das mit sich aus, selbst Angehörige wissen nichts davon, und irgendwann knallt er durch.

Der Krankenpfleger Bernd G. soll einen Patienten grob angefasst haben, deshalb wurde er gefeuert.

Wenn jemand wegen aggressivem Verhalten seinen Job verliert, ist das ein ernst zu nehmender Warnhinweis, erst recht, wenn man weiß, der hat eine Waffe zuhause.

Erfurt, Winnenden, Lörrach, Dossenheim, Tiefenthal, alles Amoktäter mit Zugang zu Sportwaffen…

Meine private Meinung: Sportschützen brauchen überhaupt keine Schusswaffen zuhause, sie könnten ihren Sport auch mit Pfeil und Bogen betreiben. Waffen in Haushalten sind ein Anachronismus, wir leben nicht im Wilden Westen, wo man sich verteidigen muss, sie stellen ein ständiges Risiko dar, am meisten für die Familien der Besitzer selbst.

Die Sportschützen argumentieren, das Problem seien nicht die legalen, sondern die illegalen Waffen.

Stimmt so nicht ganz. Ich habe als psychiatrischer Gutachter häufig mit Beziehungstaten zu tun, bei denen legale Schusswaffen benutzt wurden, um den Partner zu töten. Das sind wohlsituierte, gestandene Menschen, die das Scheitern ihrer Ehe erleben müssen und dann eben zur Waffe greifen.

Warum die Waffe und nicht das Messer?

Es ist ein Unterschied, ob man jemand mit seinen Händen erwürgt oder aus der Distanz erschießt. Die psychologische Schwelle ist längst nicht so hoch, wenn man aus drei Metern Entfernung einmal mit dem Finger zuckt.

Können Wahnkranke ihr Leiden über Jahre verbergen?

Je länger der Wahn anhält, desto wahrscheinlicher, dass es die Umgebung mitbekommt, es sei denn, der Kranke ist isoliert. Es gibt wahnhafte Entwicklungen, die gehen über viele Jahre und der Patient bleibt dennoch friedlich. Er fühlt sich beispielsweise von Geheimdiensten belästigt, jeder weiß es, und sagt, der spinnt halt. Dann kommt irgendwas dazu, zum Beispiel eine Kränkung, und auf einmal wird er gewalttätig. Da steckt man nicht drin.

Gibt es Wahnsinnstaten ohne jede Vorgeschichte?

Ja, auch die gibt es, ich habe auch schon Täter begutachtet, die ganz plötzlich ausgerastet waren.

Muss man sich vor Psychotikern fürchten?

Nein, die meisten sind harmlos. Sie sind viel eher eine Gefahr für sich selbst, weil sie manchmal versuchen, sich zu suizidieren. Nur eine bestimmte Untergruppe der Psychotiker kann gefährlich werden.

Welche ist das?

Wenn zur Psychose beispielsweise Drogen- und Alkoholmissbrauch kommt. Wenn sich die Wahnvorstellungen gegen Menschen im nahen Umfeld richten. Und natürlich, wenn jemand schon vor seiner Erkrankung als aggressiv galt.

In Freiburg hat ein wahnkranker Student einen Pfarrer erstochen, in Graz überfuhr ein Psychotiker mit seinem Auto drei Menschen. Warten Richter zu lange, bis sie solche Menschen in die Psychiatrie einweisen?

Nein. Solche Einzelfälle erzeugen natürlich ein Klima von Angst. Wenn man sich aber die Gesamtzahl der Tötungsdelikte im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre anschaut, sieht man, dass sie im Lauf der Jahre deutlich kleiner geworden ist, sie ist um zwanzig Prozent gesunken. So gesehen wird das Leben in Deutschland eigentlich immer sicherer. Psychiatrie bewegt sich grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen zu rigider Einschränkung der Rechte psychisch Kranker und einem zu zögerlichen Abwarten. Das lässt sich nur im Einzelfall entscheiden.

Was raten Sie Angehörigen, wenn eine Waffe im Haus ist?

Wenn die Krankheit noch nicht diagnostiziert ist, empfinden sie häufig eine Scheu, man will die Beziehung nicht belasten und keine Familieninterna nach außen tragen. Ich würde raten, die Dinge nicht unter den Teppich zu kehren, sondern Hilfe zu suchen. Es gibt nicht wenige, die das Amt für öffentliche Ordnung anrufen.

Würden Sie einen Kollegen anzeigen?

Meine Hemmschwelle wäre da ziemlich niedrig. Wenn ich von jemand im Freundeskreis wüsste, der ist krank und hat Waffen im Schrank, dann würde ich ihm sagen, dass ich ihn melde.

Wären jährliche psychologische Checks bei Sportschützen sinnvoll?

Ich fürchte, dass die nicht viel bringen. Wollen Sie eineinhalb Millionen Schützen Jahr für Jahr zum Psychiater schicken? Er befragt den Schützen dann zwanzig Minuten lang. Und der Proband redet sich raus. Die wirklich Gefährlichen wissen vermutlich sowieso, worauf es ankommt und verschweigen dies dann ganz bewusst. Bei Zwangsuntersuchungen will doch keiner dem Psychiater reinen Wein einschenken. Das sorgt also nur für eine Pseudo-Sicherheit.

Nach dem Absturz der Germanwings Maschine durch einen psychisch kranken Piloten forderte der bayerische Innenminister bei psychischer Auffälligkeit ein Berufsverbot, beispielsweise auch für Taxifahrer.

Wo soll das aufhören? Auch LKW-Fahrer könnten ihre 40-Tonner einsetzen, um sich zu suizidieren und andere mit in den Tod zu reißen. Ich sehe die Forderung nach mehr psychiatrischer Kontrolle mit großem Unbehagen. Man überschätzt, was Psychiater in einem halbstündigen Gespräch herausbekommen können.

Mehr Prävention durch mehr Kontrolle geht also nicht?

Man sollte die Kirche im Dorf lassen. Bei allen präventiven Maßnahmen muss man sich fragen, ob man sie will und zu welchem Preis.

Amoklauf als normales Lebensrisiko?

Ja, und glücklicherweise ein sehr seltenes. Wir haben uns an 3000 Verkehrstote jährlich gewöhnt. Wenn jemand mit 180 auf die Gegenfahrbahn rast, sagt keiner, wir brauchen künftig aus Sicherheitsgründen ein generelles Tempolimit von 80 km/h. Es ist nun mal so: Es gibt keine sichere Welt.