Zeitenspiegel Reportagen

„An den Boss Bezirksamt“

Erschienen in „Die Zeit“ 15/2018

Von Autor Jan Rübel

Michael Schlese ist Soziologe, Berater und Professor, jetzt leitet er das größte Sozialamt Deutschlands. Wie läuft es?

Wer Hilfe sucht, steht früh auf. Es ist halb acht morgens. Laut Kalender Frühlingsanfang. Im größten Sozialamt Deutschlands, mitten in Berlin, im Bezirk Mitte, Müllerstraße, ducken sich die Menschen auf der Treppe, als der Wind durch die Fensterritzen pfeift. Hier ein Schlaks mit Pudelmütze, wohnungslos, auf der Suche nach einem Betreuer. Dort eine Frau, den Schirm ihrer Basecap tief in den Nacken gezogen, arbeitslos, mit einem Termin in zwei Stunden, aber was soll sie daheim? Ein Mann mit offenem Mantel kommt durch die Flügeltüren des wuchtigen Backsteinbaus, eilt nach ganz oben, erreicht sein Büro, schließt auf und wendet sich gleich einem Stapel Post zu. Er greift sich einen kleinen weißen Briefumschlag mit der Aufschrift: “An den Boss Bezirksamt Mitte Berlin Sozialamt”.

Michael Schlese ist der Boss hier. Im Brief beschwert sich jemand in Krakelschrift, dass die Rückzahlung von Mietnebenkosten vom Amt als Einkommen angerechnet worden ist. “Da werd ich mal eine Stellungnahme einholen”, sagt Schlese und tippt eine Mail.

Einen guten Ruf haben Ämter bei ihren Bürgern traditionell nicht: unnahbar, umständlich, unfreundlich, undurchsichtig, zu langsam, zu bürokratisch sowieso. Aber was passiert, wenn jemand von außen solch eine riesige Verwaltung übernimmt, wenn ein Quereinsteiger plötzlich oben steht? Einer wie Michael Schlese, der sich nicht als Beamter von Station zu Station diente, sondern eigentlich Wissenschaftler ist, der Kommunen beraten und Betriebe saniert hat.

Seit Anfang Januar ist Schlese, ein groß gewachsener Mittfünfziger mit glänzender Glatze, Amtsleiter und damit Chef einer Behörde mit 546 Mitarbeitern, er verwaltet einen jährlichen Etat von 486 Millionen Euro. Das Sozialamt Mitte ist ein Maschinenraum der Solidarität, zuständig für 373.000 Einwohner, jährlich ziehen 6.000 hinzu. Die Einwohnerdichte ist hier doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt. 28 Prozent der Menschen in Mitte beziehen Leistungen der “sozialen Mindestsicherung”.

Mit 114 verschiedenen Dienstleistungen wartet Schleses Amt auf. Von A wie Ambulante Pflegehilfe über B wie Bestattungskostenübernahme, E wie Ehrenamtskoordination oder G wie Grundsicherung, I wie Insolvenzberatung bis hin zu W wie Wohnungsverlust und Z wie Zuwendungen für Kältehilfe.

Das Telefon klingelt, Schlese hebt nicht ab. “Lieber regele ich alles schriftlich, dann ist es dokumentiert”, sagt er. Er ist eine Ausnahme unter Deutschlands Amtsleitern: Er kam zunächst als Berater und reformierte Bereiche wie den Aufbau der Pflegebedarfsermittlung, das Fallcontrolling und die Bekämpfung von Leistungsmissbrauch. Als der alte Chef nach zwölf Jahren an der Spitze in Rente ging, übernahm Schlese die Leitung eines Amtes, das zwischen Kanzleramt und Ostplatte liegt, zwischen Hotel Adlon und Westberliner Waschbetonbauten.

Schlese ist Soziologe, sanierte nach der Promotion Betriebe, beriet Kommunen bei der Umstrukturierung ihrer Kernverwaltung, bei Privatisierungen, bei der Gebührenkalkulation und der Planung ihrer Personalentwicklung. Als Professor für Betriebswirtschaft lehrt er an der Berliner Hochschule Fresenius. Was reizt ihn daran, nun dieses Amt zu führen? “Dafür”, sagt er gedehnt, “gehen Sie mal nach unten.”

Unten im dritten Stock irren ein Mann und eine Frau durch den orangefarbenen Flur. Sie halten sich an den Händen, wissen nicht, wohin. “Uns ist die Miete erhöht worden”, sagt er. “Wir kellnern beide”, sagt sie. Das Geld reiche nicht. Nun suchen sie Beratung, klopfen an eine Tür, niemand öffnet. Das Hinweisschild im Flur ist veraltet, die zentrale Publikumssteuerung im Erdgeschoss wurde im Zuge der Sparpolitik gestrichen.

Durch die Türen im Westflur auf der zweiten Etage kommen im Dreiminutentakt Geflüchtete. “Hier ist Ihre neue Unterkunft, bitte viermal unterschreiben”, sagt eine Mitarbeiterin zu einer Frau mit Baby im Arm. Eine andere wendet sich an einen Mann mit Krücke: “Wir brauchen ein Schriftstück vom Jobcenter, dass keine Mietschulden bestehen. Dann können Sie in die neue Wohnung.” Der Syrer: “Aber ich komme grad vom Jobcenter …” – “Bitte, es muss sein.”

Ali, der nächste Klient, 17 Jahre alt, will nicht gehen. “Ich schlafe hier”, sagt er. Rasch ist die Security da, baut sich vor ihm auf. Alis Sozialbetreuer ist ein Anwalt, der Geld dafür bekommt, den Jungen zu begleiten und zu beraten – laut Amt aber nichts tut, ihn nie sieht. Dabei hat Ali Probleme, nimmt Drogen, legte sich mit anderen Flüchtlingsheimbewohnern an, wurde vor die Tür gesetzt – und erzählt dem Sozialamt vier verschiedene Geschichten, warum ihm das Jugendamt keine neue Unterkunft bot. “Wir können nichts tun, das Jugendamt ist zuständig”, erklärt die Mitarbeiterin. “Gehst du jetzt endlich?”, brummt der Sicherheitsmann. “Nicht anfassen!”, ruft Ali. Dann ist er raus.

“Sehen Sie”, sagt Schlese, der nun auch im dritten Stock steht, “ich bin hier im Amt, weil ich das, was ich als Berater entworfen habe, endlich in die Praxis umsetzen will.” Was in Lehrbüchern und Uni-Hörsälen diskutiert wird, unterzieht der Professor einem Realitäts-Check. “Hier geht es nicht um bestimmte Konzepte, sondern darum, Interessen auszutarieren und mit dem Personal Verbesserungen bei der Hilfe zu erreichen, oft auch nur kleine.” Schlese ist jemand, der den Augenkontakt sucht, in seiner Stimme schwingt stets ein bisschen Gutmütigkeit mit. Dabei redet er schnell, lange und muss sich zuweilen stoppen, hinterlässt aber nie den Eindruck, man komme bei ihm kaum zu Wort. Er ist der Moderator eines Schattenseitenmanagements.

Noch vor 15 Jahren war es vielen peinlich, Sozialhilfe zu bekommen. Man beantragte nicht alles, fühlte sich stigmatisiert, schwieg. Heute wird die Hilfe als ein selbstverständlicher Baustein der Gesellschaft verstanden, sie gilt weniger als Almosen, mehr als Rechtsanspruch. Man ist informierter, dank Internet gibt es für jede Frage ein Blog-Forum, Betroffene organisieren sich. Und träten fordernder auf, auch aggressiver, sagen die Mitarbeiter auf dem Amt.

Um zehn trifft sich die Leitungsrunde, Schlese hat einen Vanillejoghurt auf den Tisch gestellt, den trägt er seit halb acht mit sich herum. In seinem Büro diskutieren sieben Frauen und zwei Männer über die Sicherheit ihrer Mitarbeiter. Vergangene Woche gab es zwei Übergriffe von Klienten, die die Nerven verloren hatten. “Wir erteilen mehr Hausverbote, meine Leute sind gefährdet”, sagt eine Frau aus der Grundsicherung. “Unsere Namen sollten wir bei Mails abkürzen. Die stehen sonst daheim vor unserer Tür.” Ein älterer Kollege winkt ab: “Solche ›Hausbesuche‹ gab es noch nie.” Schlese schaut aus dem Fenster. “Harts 4 essen Seele auf”, steht auf einer Hauswand. Auf dem Dach eines Kaufhauses ein paar Meter weiter hockt ein großer goldener Lindt-Hase. Der Bezirk Mitte gleicht zwei nicht miteinander kommunizierenden Röhren. Einerseits immer mehr Reichtum. Andererseits immer mehr Armut, Vereinsamung, Sehnsucht nach einem Staat, der die allgemeine Unruhe erkennt und besänftigt.

Am Ende der Sitzung setzt sich eine Kollegin von der Qualitätssicherung zu Schlese. Ihre Abteilung untersucht den Missbrauch bei der ambulanten Pflege, es geht um Hunderttausende Euro. “Wir müssen mehr von unseren eigenen Leute zur Kontrolle hinschicken”, sagt sie. “Die externen Prüfer schauen nicht so hin.” Schlese nickt, er kam als Berater zum Amt, um es für den Kampf gegen die “Pflegemafia” zu wappnen: kriminelle Banden, die im Einvernehmen mit Patienten Pflegeleistungen abrechnen, die es kaum oder gar nicht gibt. Derzeit zahlt das Sozialamt an Dienste, gegen die das Landeskriminalamt ermittelt, noch sind nicht alle Beweise zusammen. Die Polizei durchleuchtet einen Graubereich der Gesellschaft: Der Pflegebereich fußt auf wenigen Regeln und noch weniger Kontrollen – viel zu wenig, gemessen an seiner Bedeutung. “Da ist die Fahrzeuglogistik besser geregelt als die Pflege”, sagt Schlees.

Als er endlich zu seinem Joghurtbecher greift, nähert sich eine andere Kollegin. “Bei der Ausschreibung für die unabhängige Sozialberatung favorisiere ich diesen Träger hier”, sie zeigt ihm ein Blatt Papier. “Der ist aber nicht in der Liga, was machen wir?” Schlese lächelt: “Machen wir mal lackfrech.”

Von der Liga ist im Amt oft die Rede. Man spricht über sie mit Ehrfurcht, manchmal wie über einen feindlichen Geheimbund. Die Liga ist mächtig, dahinter verbirgt sich der Zusammenschluss der Spitzenverbände der freien Wohlfahrt, Caritas und Diakonie gehören dazu, die AWO. Allein in Berlin sind 107.000 Menschen bei ihnen angestellt. Mit der Politik ist die Liga gut vernetzt, Volksvertreter sitzen in den Vorständen und Aufsichtsräten dieser Industrie, die sich naturgemäß um die Nachfrage sorgt. Die Liga ist ein Stützpfeiler des Sozialen, setzt aber auch auf Wachstum und Wirtschaftlichkeit; je mehr Aufträge, desto besser. Je mehr staatliche Kontrolle, desto schlechter.

Der Soziologe Schlese sieht in dieser Konstellation ein Problem. “Unsere Gewaltenteilung ist durchwirkt von Netzwerken, das ist grundsätzlich gut, weil tiefdemokratisch. Aber wenn zum Beispiel die Wohlfahrtsträger als gleichberechtigte Netzwerkplayer aufgenommen werden, entscheiden die über sich selbst mit.” Schlese sieht sich als Treuhänder des Steuerzahlers. “Unsere Aufgabe ist es nicht, den Menschen maximal zu helfen, sondern angemessen.” Er sehe das “gut marxistisch”: “Es geht um wirtschaftliche Interessen. Wer sägt schon am eigenen Ast?”

Die Liga ist dem Amt Partner wie Gegenspieler. Und wirkt dabei wie ein ungleicher Gegner, mit all den Politikern, die sich um das Wohl der Träger sorgen und im Zweifel für sie in die Behörden hinein intervenieren, wenn ein Auftrag nicht vergeben oder eine Zahlung verweigert wurde.

Als Amtsleiter muss Schlese seine Mitarbeiter entlang dieser Widersprüche navigieren. Er sagt von sich, er sei kein warmherziger Typ. Er vergesse oft Geburtstage und erwarte auch nicht, dass man an seinen denkt. Trotzdem ist Schlese nahbar, nimmt die Perspektiven anderer ein, wägt Argumente ab, sieht sich als Modernisierer und Motivator, meint: “Ich fühle mich zuweilen wie ein Schlaffi, weil ich nach Gesprächen manch eigene Entscheidung revidieren muss.”

Und er agiert in einem Terrain, wo die Nerven schon mal blank liegen, er in Verlegenheit gerät: wenn er erfährt, wie Klienten von seinen Leuten angeschnauzt werden, und sich fragt, wie offen und deutlich er seine Kritik dann anbringen soll. Denn natürlich sieht er den Stress der Mitarbeiter, den Druck der Schicksalsgeschichte, die sich hinter jedem Fall verbirgt, der bei ihnen auf dem Tisch liegt. Dann fragt er sich, ob er sich selbst etwa von weinenden Klienten hat manipulieren lassen, denn wehrhaft sind ja auch sie.

Schlese fährt mit einem Kollegen in der U7 zu einem ämterübergreifenden Treffen, im Rathaus Moabit geht es um die Lage der Geflüchteten. Vertreter des Jugendamts sind da, der Integrationsbeauftragte und auch der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel. “Wie geht es weiter mit dem Personenkreis aus der Kameruner Straße?”, fragt von Dassel. Roma aus Bulgarien lebten dort in prekären Verhältnissen. Der Müll wurde nicht abgeholt, Wasser tropfte von den Decken, es gab Ratten. Der Bezirk brachte die Roma in eine Notunterkunft. Jetzt leben sie in geordneten Verhältnissen, alles läuft prima – nur, wer zahlt dafür, und welche Bleibeperspektive haben sie? Schließlich handelt es sich nicht um Geflüchtete oder Asylbewerber; sie reisten als EU-Bürger ein. “Zur Hälfte können wir das über die Kältehilfe finanzieren”, schlägt Schlese vor, “aber was machen wir ab Mai?” Das Gespräch zieht sich hin, zu einer endgültigen Lösung kommt man nicht.

Bei der Fahrt zurück ins Amt gehen Schlese und sein Kollege die Kosten für die Unterbringung der Roma durch. Er sieht sein Amt in einem Prozess der “Klientrifizierung”, da es politische Aufgaben in einem Graubereich übernimmt, in dem die Politik keine genauen Vorgaben macht – wie bei den EU-Bürgern aus Bulgarien, bei denen unklar bleibt: Sind sie nur Gäste oder mehr? “Würde Angela Merkel sagen, wir wollen Neubürger, dann würden sich alle einen Kopf machen”, sagt Schlese, “aber so eiern wir herum.” Dabei sei die Sache klar: “Uns fehlen in 30 Jahren 26 Millionen Menschen, da sollten wir in jene investieren, die zu uns kommen. Es sollte ein Primat der Politik werden, Einwanderung gezielt zu fördern.” So jedoch lasse Merkel die Verwaltung hängen. Sein Kollege widerspricht: “Aber die Roma zum Beispiel sind doch bildungsfern, da kamen Komapatienten.” Schlese checkt kurz seinen Blackberry. “Wir brauchen halt ein Zuwanderungsgesetz.” Seinem Amt fehlt es an politischen Leitbildern von oben, an Grundsätzen, auf die sich Regierung und Bundestag einigen müssten.

Als er am frühen Nachmittag, zurück im Wedding, wieder die Trutzburg aus dem Jahr 1930 betritt, ist alles still. Die Menschen auf den Fluren und Treppen sind weg. Viele Kollegen sind nach Hause gegangen. Schlese wird noch Mails und Anrufe abarbeiten, über den nächsten Tag nachdenken. Welchen Kurs schlägt er ein, gegenüber der Liga, den EU-Einwanderern, den Geflüchteten und einer visionslosen Politik?

Die gelben und grünen Keramikfliesen der Eingangshalle wirken matt im fahlen Sonnenlicht. Auf das Bezirksamt legt sich eine große Müdigkeit. Nur der Amtsleiter ist noch wach.