Zeitenspiegel Reportagen

Berliner Schul-Lotterie

Erschienen in "Berliner Zeitung", 14. Mai 2018

Von Autor Jan Rübel

Wie in jedem Jahr warten in Berlin alle Sechstklässler und ihre Eltern auf einen bestimmten Brief - auf welche Schule geht es nach den Ferien? Ein Frontbericht.

Im vergangenen Mai machte eine vermeintliche Erfolgsmeldung die Runde. „Es ist erfreulich, dass 92 Prozent aller Schülerinnen und Schüler zum Schuljahr 2017/18 einen Platz an einer ihrer Wunschschulen erhalten” sagte Bildungssenatorin Sandra Scheer.

Es ging um den Übertritt in die siebte Klasse. Die Berliner Grundschulen enden mit der sechsten, und seit der Reform von 2011 erwartet die Abgänger ein zweigliedriges Schulsystem: entweder Sekundarschule oder Gymnasium; eine Frage, die Eltern auch in diesem Frühjahr schlaflose Nächte bereiten kann - wohin mit meinem Kind?

92 Prozent, solche Worte klingen nach einer zufriedenen Mehrheit, doch was sagt diese Zahl aus? Was geschah mit jenen 1254 Schülern im Jahr 2017, die an keiner “Wunschschule” landeten? Wurden der Bildungskarriere von acht Prozent aller Schüler dieses Jahrgangs durch die Berliner Politik große Steine in den Weg gelegt? Zahlen sind relativ: Als die Grünen bei der Bundestagswahl im vergangenen September 8,9 Prozent der Stimmen errangen, sprachen alle von einem guten und respektablen Ergebnis, und als die Union bei selbigen 8,5 Prozent verlor, titelte die “Welt”: “Dramatische Verluste”. Was verbirgt sich hinter acht Prozent der Schüler - und wie kam es dazu?

Einer dieser 1254 ist Sebastian*. Als er sich damit abzufinden hatte, dass diese heile Welt namens Grundschule sich dem Ende zuneigte, stand auf seinen Zeugnissen ein Notenschnitt von 2,8. In Berlin nennt man diese Mittelrechnung von Zensuren aus zwei Halbjahren “Förderprognose”. Früher hätte man gesagt: eine gute 3. Luft nach oben. Sein Vater hatte im gleichen Alter einen schlechteren Schnitt, das Abitur mit 2,7 abgelegt und später ein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, von der promovierten Mutter Sebastians zu schweigen, kurz: kein glänzendes Zeugnis, aber mit Potenzialen, die auch das Abitur in den Blick nehmen sollten.

Doch es kommt anders. Sebastian nennt drei Wunschschulen, das muss man so tun. Mit der Schulreform von 2011 wurde das Prinzip der Wohnortsnähe abgeschafft, die Politik verkaufte dies als “Wahlfreiheit”: Nun könnte die Eignung der Schüler für das jeweilige Profil einer Schule berücksichtigt werden, jubelt der Bildungssenat, also “sprachlich, mathematisch-naturwissenschaftlich, sportlich, musisch, künstlerisch” gesehen.

Bei genauer Hinsicht entpuppen sich die Schulen indes weniger als profilierte Kompetenzzentren, sondern als - Schulen. Sebastians Eltern entscheiden sich für eine Sekundarschule. Ihnen gefällt das Prinzip des gemeinschaftlichen Lernens, dass in der Sekundarschule die Gesamtschulen weiterleben. Und seit der Reform 2011 sind Sekundarschulen gewiss keine zweite Wahl - viele Eltern bevorzugen sie allein deshalb, weil der Gang zum Abitur dort in 13 Schuljahren absolviert wird, im Gegensatz zum Turboverdikt an den Gymnasien.

Sebastian würde gern in eine wohnortnahe Schule gehen, Berlin lebt ja von der Kiezkultur. Doch seine Familie lebt in Mitte, unweit des Alexanderplatzes. Eine Sekundarschule mit echtem Gesamtschulcharakter, also auch mit gymnasialer Oberstufe, gibt es nicht. Also bewirbt er sich für eine Erstwunschschule in Pankow, für eine Zweitwunschschule in Friedrichshain und für eine Drittwunschschule in Neukölln - alle drei “normale” staatliche Sekundarschulen.

Doch die Schulen können nicht alle aufnehmen, die sich bewerben; es mangelt an Plätzen. Entscheidend ist der Notenschnitt - wie der Numerus Clausus an Universitäten. Die Eignungen der Schüler bezüglich des “Profils” sind so gut wie nirgendwo in Berlin ein Gradmesser; es geht um die Zahlen auf den Zeugnissen. Weicher formuliert es die Pressestelle des Bildungssenats, welche schreibt, “so ist anzumerken, dass der den Schulen eingeräumte Freiraum bei Festlegung der Auswahlkriterien nicht mit Vorgaben verbunden war, wie dieser zu nutzen sei”. Wesentlich genauer definiert es das Berliner Schulgesetz, welches die Senatsverwaltung ermächtigt, Näheres über eine Rechtsverordnung zu regeln: Da ist mitunter die Rede von der “Übereinstimmung der persönlichen Voraussetzungen…mit den Ausprägungen des Schulprogramms”, vom “Ergebnis eines Auswahlgesprächs oder eines anderen spezifischen Eignungsfeststellungsverfahrens”. Wolkige Worte, die in Berlin weitgehend keine Umsetzung finden. Ein Anruf bei der Rektorin einer beliebten Sekundarschule in Sebastians Wohnortnähe, wie fast alle setzt sie bei der Aufnahme ausschließlich auf den Notenschnitt: “Uns fiel nichts anderes ein”, sagt sie. “Und sollen wir Kinder zu miteinander konkurrierenden Bewerbungsgesprächen laden? Die sind nicht einmal Jugendliche!” Zitieren lassen will sich übrigens die Rektorin nicht.

Mit 2,8 ist Sebastian draußen. “Mindestens 60 Prozent der Schulplätze werden nach Aufnahmekriterien vergeben, die von der Schule unter Berücksichtigung des Schulprogramms festgelegt werden”, heißt es vom Bezirksamt Pankow, der zuständigen Behörde für die Erstwunschschule. Heißt praktisch: Nur der Notenschnitt zählt. Über 30 weitere Prozent der Schulplätze entscheidet ein Losverfahren, während 10 Prozent Härtefällen vorbehalten sind.

Die Schule in Pankow nimmt Schüler mit einem Notenschnitt bis 2,6 auf. Unter acht Schülern mit einem Schnitt von 2,7 wird ein weiterer Platz gelost - und alle anderen kommen in einen großen Lostopf für die 30 Prozent der übrigen Schulplätze. Die Lotterie bringt Sebastian kein Glück. Und die beiden anderen Lehrstätten in Friedrichshain und in Neukölln sind da bereits ebenfalls aufgefüllt. Auf dem Papier stehen drei Schulwünsche. Faktisch gibt es nur einen freien Schuss, da die Erstwünsche vor den Zweit- und Drittwünschen entschieden werden. Sebastian hat auch das Pech, keine älteren Geschwister auf einer Schule zu haben: Da die zehn Prozent der Härtefälle nie voll aufgefüllt werden, werden dann “Geschwisterkinder” vor der Lotterie bewahrt.

In der Zwischenzeit bewirbt er sich parallel bei der privaten Sekundarschule einer Kirche - doch die ist beliebt und nimmt weit über 90 Prozent ihrer Siebtklässler aus der eigenen Grundschule, keine Chance. Und zum Gymnasium in Wohnortnähe geht Sebastian. Beim Aufnahmegespräch soll es offiziell um Sebastians persönliche Motivation gehen, warum er ausgerechnet auf diese Schule gehen will, um seine Identifikation mit dem speziellen Profil; doch der Schuldirektor wirft einen kurzen Blick auf den Notenschnitt, meint, das werde nicht reichen, um im Gymnasium zu bestehen und stellt gar nicht erst tief gehende Fragen zu Profil und Programm seiner Schule.

Was nun? Sebastians Eltern müssen ihrem Elfjährigen klarmachen: Die wollen dich alle nicht. Und: Ein schlechter Schüler bist du nicht. Aber dieser verdammte Schnitt…

Was nun wirklich? In der Pressemitteilung des Bildungssenats heißt es beschönigend: “Im Ergebnis der Ausgleichskonferenz der bezirklichen Schulträger kann allen Schülerinnen und Schülern, bei denen kein Wunsch erfolgreich war, ein anderer Schulplatz angeboten werden.” Das klingt großzügig, ist aber allein angesichts der Schulpflicht banal. Die Behörde schlägt Sebastian vor, an die Willy-Brandt-Schule im Wedding zu wechseln.

Die Eltern machen sich schlau. Wäre diese Schule okay? Sie verfügt über keine gymnasiale Oberstufe - kein gutes Zeichen. Dann fallen Zeitungsberichte ins Augenmerk, von “Brennpunktschule” ist die Rede, dass 2015 genau 77 Prozent der dortigen Schüler in der neunten Klasse durch die Prüfung zur Berufsbildungsreife fielen, und dass von denen in der zehnten Klasse zwar 67 Prozent den Schulabschluss schafften, aber 33 Prozent die Schule ohne Abschluss verließen; ein tolles Lernklima stellt sich anders dar. Es gibt eine neue Rektorin, eine gute Aufbruchstimmung, die Schulleiterin wirbt in einem Interview: “So etwas braucht Zeit.” Vielleicht macht sich diese Schule, so denken Sebastians Eltern im Frühling 2017, auf einen guten Weg und ist gerade dort, wo die Neuköllner Rütli-Schule vor zehn Jahren stand, welche damals wegen öffentlicher Kapitulationserklärungen bundesweite Schlagzeilen fand. Aber jetzt? Für die Rütli-Schule hatte sich übrigens Sebastian beworben, sie war seine Drittwunschschule, und aufgrund der tollen Entwicklung der vergangenen Jahre zu attraktiv, sprich: nun überlaufen.

Sebastians Eltern schalten eine Anwältin ein, sie wollen sich nicht damit abfinden, inmitten der Hauptstadt ihren Sohn in keine staatliche Schule schicken zu dürfen, die eine klare Bildungsperspektive verspricht. Ein Widerspruch wird formuliert und am 23. Mai 2017 beim Pankower Bezirksamt eingelegt. Dann passiert nichts.

Es beginnt die Zeit, in der eigentlich Schüler und Eltern sich auf die neue Schule in der siebten Klasse vorbereiten, Schulbücher kaufen, die Sommerferien erwarten, durchatmen. Bei Sebastian gibt es nur banges Abwarten. Simone Pietsch, die Anwältin der Familie, fragt mehrmals bei der Behörde nach. Schließlich, nach abermaliger Intervention, schicken die Beamten am 21. August die Zurückweisung ab, welche am 25. August die Familie erreicht - zehn Tage vor dem ersten Schultag und drei Monate nach Eingang des Widerspruchs. “Richter arbeiten die Sommerferien durch. Offizielle ‚Sperren’ gibt es nicht und darf es wegen der Unabhängigkeit der Richter auch nicht geben“, sagt Anwältin Pietsch. “Vier Wochen nach der Begründung des Widerspruchs sollte dieser beschieden werden.“ Pikanterweise trägt das Schreiben an die Familie von Sebastian als Datum den August in Maschinenschrift und den “21.” in Handschrift, als wäre das Schreiben vorformuliert, aber dann nicht abgeschickt worden?

Den Eltern ist das schon egal. Wer klagt jetzt, so kurz vor Schulbeginn?

Pietsch sagt, vor zehn Jahren sei das Phänomen des Anwalts für die Schule aufgetreten. Damals wechselte sie vom lukrativen Kapitalmarktrecht ins Bildungsrecht, “jedes Jahr verdoppeln sich meine Fälle”. Ihre Klientel besteht zu 60 Prozent aus Nicht-Akademikern, “die opfern sich für bessere Bildungsbedingungen ihrer Kinder auf”.

Nicht wenige Kunden kommen aus Mitte und den benachbarten Gebieten. “Für die Elternschaft gab es einen Wandel, früher zog man nach Lankwitz oder Friedenau, heute nach Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain”. Die Folge: Der Südwesten ist reich an guten Gymnasien, während es im Osten an Plätzen mangelt. “Die Schulverwaltung hat sich dieser demografischen Entwicklung kaum angepasst”, kritisiert Pietsch. “Die Verzahnung der Behörden funktioniert nur schlecht.”

Zahlen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg illustrieren einen Trend. Im Ortsteil Mitte lebten Ende 2010 insgesamt 3996 Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren, Ende 2017 waren es 6192. Ähnliche Zunahmen erfahren Friedrichshain (von 5339 auf 7655), Prenzlauer Berg (von 8139 auf 12730) und Pankow (von 3815 auf 5521). Dagegen sind die Entwicklungen im Westen moderater. In Charlottenburg erhöhte sich die Anzahl der Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren zwischen 2010 und 2017 von 7034 auf 7601, in Wilmersdorf von 5651 auf 6116 und in Grunewald von 695 auf 795.

Hat die Schulpolitik darauf reagiert? Wurden mehr Schulplätze geschaffen, wie wird der Platzbedarf ermittelt? Daher die Frage an den Senat: Gibt es Zahlen über die Entwicklung der Schulplatzanzahl in der siebten Klasse, über die vergangen zehn bis 20 Jahre bis heute? Es beginnt eine kafkaeske Odyssee durch die Berliner Informationspolitik.

“Die Angaben liegen der Senatsverwaltung für Bildung nicht vor. Zuständig sind die einzelnen Bezirke”, schreibt die Pressesprecherin. “Da der Bezirk Mitte nicht für Ihre Anfrage zuständig ist, habe ich Ihre Anfrage an das Landesschulamt weitergeleitet”, schreibt die dortige Pressesprecherin. Dann passiert erst einmal nichts. Nach mehreren Anrufen einen Monat später die Antwort: “Weder die Schulaufsicht noch das bezirkliche Schulamt verfügen über die erbetenen Daten zur Schülerentwicklung in den letzten 10-20 Jahren”, heißt es. “Unser Augenmerk ist nach vorn gerichtet, wie sich die Schulplatzbedarfe entwickeln werden und wie wir die Versorgung mit einer ausreichenden Zahl an Schulplätzen im Bezirk Mitte sicherstellen können.”

Nach vorn gerichtet, das klingt schmissig. Aber die Zahlen - sie werden doch irgendwo sein, in dieser Stadt?

Für Sebastian hat dieses Zuständigkeitsgewirr keine Bedeutung, er muss ja auf irgendeine Schule. Im September 2017 wechselt er auf eine private Freie Sekundarschule, die Eltern zahlen dafür einen monatlichen Beitrag von mehreren hundert Euro. Wegen ihres Einkommens eröffnet sich dieser private Ausweg; hätten sie dies nicht, bedeutet diese praktische Schulpolitik ein lebenslängliches Urteil für Elfjährige. Und wie ergeht es jenen acht Prozent der Schüler seines Jahrgangs - was sind die Folgen?

Zum einen nimmt die Zahl der Berliner Siebtklässler in privaten Integrierten Sekundarschulen zu, und zwar von 1223 Schülern im Schuljahr 2012/2013 auf 1627 Schülern im Schuljahr 2017/2018. Man könnte es auch Outsourcing nennen. Zum anderen erfreuen sich die Berliner Verkehrsbetriebe über mobiler werdende Schüler - jedenfalls nehmen die Schülerabos von 41.500 im Jahr 2012 zu auf 54.600 im Jahr 2016. Dies mag sicher auch an den gestiegenen Schülerzahlen insgesamt liegen, aber vielleicht auch am Wegfall der Wohnortnähe und der “Wahlfreiheit”, dass Schüler nun quer durch die Stadt fahren.

In Berlin herrscht eine Meisterschaft von Verpackungskultur. Nicht nur an den durch Christo verpackten Reichstag von Annodazumal erinnert man sich gern in der Stadt, Politiker sind ähnlich kreativ. Der Mangel an Schulen wird übertüncht mit modernen Worten wie “Wahlfreiheit” und “Profil”, während hinter dieser Fassade ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Schulpolitik Auslesekriterien auf alle angehenden Teenager dieser Stadt angelegt werden, wegen derer auf ihren Bildungskonservatismus stolze Länder wie Bayern erblassen. Bleiben dann noch jene acht Prozent mit ihrem Pech. Ein altes Indianersprichwort sagt: Starre Äste brechen im Sturm. Berlin erzieht seine Kinder zu Großstadtindianern.

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