Zeitenspiegel Reportagen

Die Macht der Worte

Erschienen im Ausstellungskatalog "Peace Counts en Cote d´Ivoire", Oktober 2010

Von Autor Tilman Wörtz

Ein Geschichtenerzähler reist durch die Elfenbeinküste als Medium für all jene, die weder Zeitung noch Fernseher haben. Er erzählt von Friedensmachern im eigenen Land, von den Mutigen und Geduldigen, denen auch kleine Schritte wert sind, gegangen zu werden. Seine Präsentation geriet allerdings ganz anders, als ich mir das als Leiter des Projekts gedacht hatte.

Der Mann auf der Bühne reißt die Augen auf und brüllt: „Bam, Bam, Bam…“ Er duckt sich weg, als ginge er vor Kugeln in Deckung, und ahmt mit zitternder Stimme Rufe von Menschen hinter einer Mauer nach: „Komm zu uns, Madame Kambou, komm zu uns!“ Der Mann auf der Bühne richtet sich wieder auf, hält kurz inne, lässt seine Stimme in Basslage absinken und füllt sie mit Ergriffenheit: „Doch Madame Kambou Denise ging trotzdem über die Straße und suchte für ihre Waisenkinder einen Sack Reis….“

Vor der Bühne kauern Kinder auf einem staubigen Platz und starren hinauf zum Geschichtenerzähler. Hinter ihnen die Ältesten auf einer Reihe Plastikstühle, sie tragen bunte Gewänder und bestickte Käppis. Hinter ihnen schließlich stehend die restlichen Erwachsenen, so zahlreich, dass die Menge vom Lichtkegel der Scheinwerfer nicht erfasst werden kann.

„Sollten die Kinder etwa verhungern, frag ich Euch? “ braust der Geschichtenerzähler nun wieder so sehr auf, dass selbst die Ältesten zusammen zucken. „Sollten sie etwa verhungern?“ wiederholt er. Die Kinder rufen: „Neeein!“ Die Ältesten finden ihre würdevolle Haltung wieder, rutschen noch mal kurz auf ihren Plastikstühlen hin und her. „56 Waisenkinder versorgt Madame Kambou heute“, sagt der Erzähler - nun wieder etwas leiser. „56!“. Pause. „Das sind mehr als fünf Fußballmannschaften!“ Die Kinder lachen. Die Ältesten auch.

Nach der Geschichte über Madame Kambou folgt eine über die Organisation Initiative Citoyenne, die in politischen Kampfversammlungen für Toleranz und eine demokratische Streitkultur wirbt. Und dann eine über einen Schulrektor, der den Streit zwischen nomadischen Viehzüchtern und Bauern schlichtet, wenn die Kühe der Nomaden wieder mal die Felder der Bauern zertrampelt haben. Es folgt ein Witz, ein wenig Slap-Stick. Und noch einer. Die Leute lachen sich schlapp – und lockern sich wieder für das nächste schwierige Thema. Um Friedensmacher in der Elfenbeinküste geht es jedes Mal, Menschen, die Konflikte mit friedlichen Mitteln lösen. Menschen, von denen kaum jemand gehört hat, denn sie gehören zur Zivilgesellschaft, haben weder Macht noch Waffen. Doch gerade in ihnen liegt Hoffnung auf einen Wandel in der Elfenbeinküste, einem Land, das immer noch vier Jahre nach einem blutigen Bürgerkrieg zerrissen ist und nun vor den ersten Präsidentschaftswahlen steht. Es hat die Chance auf einen Neuanfang – vorausgesetzt, die Wahlen münden nicht in eine neue Runde der Gewalt wie in Kenia vor zwei Jahren.

Der Geschichtenerzähler auf der Bühne ist von dem Projekt „Peace Counts“ über Land geschickt worden. Menschen, die keinen Zugang zu Medien haben, sollen durch seine Erzählungen über die Methoden der Friedensmacher informiert werden. Eine fahrende Volkshochschule des Friedens. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts hatten ein Jahr zuvor ivorische Journalisten zehn Reportagen im ganzen Land recherchiert und geschrieben. Peace Counts ist eigentlich eine deutsche Initiative, afrikanisierte sich aber im Laufe des Projekts durch den Charme und Witz der Ivorer. Als Projektleiter konnte ich mich darüber nur freuen. Schließlich wollte auch ich dazu lernen. Gemeinsam wollten wir neue Formate der Informationsvermittlung in Afrika testen.

Die Elfenbeinküste ist das fünft ärmste Land der Welt, nur die Hälfte der Bevölkerung kann Lesen und Schreiben. Zeitung ist ein Medium der Eliten in der Stadt. Auf dem Land hat niemand einen Fernseher. Mund-zu-Mund-Propaganda ist nach wie vor das wichtigste Medium für die Übermittlung von Nachrichten. Stellt sich ein Reisender vor, fragt das Familienoberhaupt zuerst: „Et les nouvelles?“ – Und die Neuigkeiten? Es herrscht Informationspflicht für Reisende im ländlichen Afrika.

Das Projekt Peace Counts wollte sich diese Tradition zu nutze machen und kehrte zu den Wurzeln der Nachrichtenübermittlung zurück: dem Geschichten erzählen.

Der Moderator Soul Oulai hatte die Idee, die Auftritte des Geschichtenerzählers außerdem im Radio zu übertragen, im landesweiten Sender RTI auf Französisch und in lokalen Sendern in der einheimischen Sprache. So erreichten die Geschichten im Laufe der Tour Millionen von Hörern. Zum ersten Mal kooperierte der Regierungssender RTI auch mit den Radiostationen der Rebellen im Norden.

Der Konvoi startete im Norden, in Korhogo, und bewegte sich von dort nach Bouaké im Zentrum der Elfenkeinküste, dann gen Westen, 2.800 Kilometer insgesamt. Ein Laster, ein Geländewagen und zwei Kleinbusse transportierten Erzähler, Moderator, Radiotechniker samt Equipment und zwei Assistenten, außerdem immer wieder Musiker und Tänzer, die uns auf einigen Stationen begleiteten.

Wir machten an neun Orten Halt. Unsere Stationen wählten wir nach drei Kriterien: War das Dorf oder Städtchen vom Bürgerkrieg betroffen gewesen? Gab´s dort ein Radio, das die Show übernehmen konnt? Lebte dort einer der porträtierten Friedensmacher, der vom Geschichtenerzähler für ein kurzes Interview auf die Bühne gebeten werden konnte?

Die Leute verstanden sofort, um was es ging: Geschichten erzählen hat in Westafrika eine lange Tradition. „Griots“ heißen die Erzähler, die seit Jahrhunderten die Annalen von Königen und wichtigen Familien von Generation zu Generation tragen.

So ein traditioneller Griot war auch Ouattara, dem wir in Beoumi begegneten. Im langen Gewand saß Ouattara beim Teetrinken mit anderen Nomaden auf dem Boden vor seinem Sommerquartier, einem gemieteten Lehmhaus. Selbst ein Analphabet, zeichnete sich Ouattara durch ein ausgezeichnetes Gedächtnis aus, das ihm sein Vater und Großvater - auch sie Griots – antrainiert hatten, durch die mündliche Überlieferung der Geschichte seines Stammes bis zurück zu den alten Königen der Tuaregs in der Sahara.

Traditionelle Griots wie Ouattara gibt es heute nur noch wenige. Ihre Kunst lebt aber in modernen Formen weiter. Rapper, Kabarettisten, Erzähler im Fernsehen und auf Kindergeburtstagen – sie alle verstehen sich als „maitre du mot“, Meister des Worts. Afrika ist ein Kontinent des Worts. Schulkinder auf dem Land haben kaum Hefte und Bücher. Sie lernen übers Hören und Nachsprechen. An jeder Straßenecke in Abdijan und auch kleineren Städten steht jemand mit einem Handy. Telekommunikationsfirmen sind mächtige Unternehmen. In Ghana sponsorn sie die Einreiseformulare, in Sierra Leone gehört ihnen jede Zeitung. Ständig wird in Afrika gequasselt. Aber wehe, man erhofft sich Antworten auf eine eMail. Selbst bei Adressaten mit Internet-Zugang ein Rufen in die Wüste.

Unser Maitre du mot war ein Schauspieler der Seifenoper „Quoi de neuf?“ - Was gibt´s Neues? - den in der Elfenbeinküste jeder unter dem Namen „Fortuné“ kennt. Vor seinen Auftritten zogen Jungs mit Megaphonen durch die Straße und warben um Zuhörer: „Heute Abend, Madames et Messieurs, präsentieren wir eine Sensation – aber verratet´ s niemand weiter: der berühmte Schauspieler Fortuné kommt um sieben Uhr auf den Platz der Republik!“ Um sieben war dann natürlich noch niemand auf dem Platz. Boxen mussten erst Musik in die Nachbarschaft brüllen. Nach einer Stunde drängten sich schließlich tausend, zweitausend Menschen im Halbkreis um die Bühne, gierig nach neuen Eindrücken, von denen sie in ihrer Medien freien Zone so wenige bekommen.

„Ihr wisst, dass ich gerne Witze mache“, eröffnete Fortuné seinen Auftritt und gab gleich den Scherz über den Bauern zum besten, der beim Maniokernten sein bestes Stück abhackt. „Aber heute Abend möchte ich Euch von ernsten Dingen erzählen“, fuhr er fort und die Aufmerksamkeit war ihm sicher. Auch als er Zahlen nannte, Namen, politische Hintergründe, hörten ihm die Menschen zu: „In den sogenannten Parlamenten – wisst ihr´s noch? – da wurde gegen politische Gegner gehetzt, da wurden Ethnien ausgegrenzt, Menschen, die schon lange in der Elfenbeinküste leben, Senufo, Yacouba, We.“

Fortuné redete nicht wie ein Hochschulprofessor. Seine Kunst des Erzählens nahm auf seine Zuhörer Rücksicht. Er redete in Hauptsätzen, mit vielen Wiederholungen und einfachen Worten. Er identifizierte keine „Synergien zwischen Nomaden und Bauern“, sondern spielte den Menschen eine Kuh vor, die auf ein Feld kackt und es dadurch düngt: „Nomaden und Bauern brauchen einander! Sollen doch die Bauern das Vieh der Nomaden auf die Felder lassen, die Brach liegen! Dann ist allen gedient: den Bauern und den Nomaden. Dann brauchen sie nicht mehr einander umbringen. Stimmt doch, oder?“ „Jaaaaa“, riefen die Kinder.

Neben seiner Stimme war Fortunés wichtigstes Instrument sein Zeigenfinger. „Auch ihr könnt so sein wie Madame Kambou!“ herrschte er das Publikum an, „egal was jemand beruflich machst: Jeder kann helfen! Auch Du! Du und Du!“ Sein Zeigefinger stach wahllos auf Einzelne in der Menge ein.

Als Europäer war mir das zu viel Emphase. Mich beschlich der Verdacht, dass sich Fortuné zu sehr mit seinen Figuren identifizierte, zu sehr moralisierte, statt sich auf die spannungsvolle Vermittlung von Informationen zu beschränken. Ich bat um ein Gespräch.

Fortuné und auch der Radiomoderator Soul mussten über meinen Einwand lachen: „Eine Geschichte ohne Moral? Jede Geschichte braucht eine Moral! Zumindest in Afrika.“ Auch den Zeigefinger und das Brüllen wollten sie nicht abschwächen. „Ihr Europäer seid zimperlich! Für Afrikaner sind das keine aggressiven Gesten. Die Leute brauchen diese Eindeutigkeit, sonst verstehen sie die Botschaft nicht!“ Ich stellte mir in dem Moment einen arabischen Geschichtenerzähler in einer Teestube vor, der mit geheimnisvoller Stimme von Tausend und einer Nacht erzählt. Oder einen Storyteller auf den Philippinen – auch dort lebt immer noch die Tradition der Informationsvermittlung durch das gesprochene Wort - der sich beim Lachen die Hand vor den Mund hält, um seine Zuhörer nicht durch sein entblößtes Gebiss zu bedrängen. Würde der Filipino schreien wie Fortuné – seine Zuhörer würden vor ihm flüchten wie vor einem ausbrechenden Vulkan. Aber Afrika ist anders. Afrika ist lauter. Und so schwieg ich. Denn in der Tat: Menschen verarbeiten überall auf der Welt Informationen ein wenig anders. Weil diese Einsicht beachtet und auf lokale Gegebenheiten eingegangen wurde, funktionierte die Volkshochschule des Friedens von Peace Counts in der Elfenbeinküste. Das ist die Moral von unserer Geschicht.