Zeitenspiegel Reportagen

Endstation ungewiss – Eine Erinnerung an die Rettung jüdischer Kinder vor den Deutschen

Erschienen in "Geo", Dezember 2010

Von Autor Bernd Hauser

Sie hoffen auf Abenteuer in einem Land, in dem die Menschen in Schlössern wohnen und gekleidet sind wie Sherlock Holmes: 10.000 Kinder jüdischer Familien werden 1938/1939 aus Deutschland nach England gebracht. Die meisten ahnen nicht, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen werden.

Jemand klopft an ein Glas, und eine Frau mit schwarz gefärbten Haaren und gestrichelten Augenbrauen erhebt sich langsam. Sie ist klein, gebeugt, ihr Gesicht reicht kaum über die Weingläser auf dem Tisch. Sie muss weit über 80 Jahre alt sein. Die zarte Dame deutet auf den Tannenbaum, den die Korrespondenten im Internationalen Pressezentrum von Kopenhagen für ihre Weihnachtsfeier aufgestellt haben: „Als ich ein Kind war, hatten wir immer so einen schönen Baum.“ Eine ungarische Journalistin verdreht die Augen, flüstert: „Same procedure as last year!“

Die alte Dame spricht Dänisch mit einem schweren deutschen Akzent. „Weihnachten 1933 flog ein Stein durch das Fenster unseres Wohnzimmers in Holzminden, einer kleinen Stadt in Deutschland. Draußen brüllten Männer: Wie können es sich Juden erlauben, einen deutschen Weihnachtsbaum zu besitzen! Mein Vater wagte es nicht mehr, einen Baum aufzustellen. Also hatte ich ab meinem zehnten Lebensjahr keine richtigen Weihnachten mehr.“ Die Frau setzt sich, im Saal herrscht Schweigen. Als ich mit ihr sprechen will, ist sie verschwunden. Es ist, als sei sie nur gekommen, um uns ihre Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Ich erkundige mich nach ihrem Namen, rufe sie an. Schließlich sitze ich in Ulla Jessings Wohnzimmer im neunten Stock eines Hochhauses. Auf dem Schreibtisch ein neuer Computer, in den Bücherregalen DDR-Ausgaben von Autoren wie Anna Seghers, Stefan Heym, Christa Wolf, Bertolt Brecht, natürlich, auch Thomas und Heinrich Mann. Wir sprechen Deutsch, aber wir duzen uns, wie es in Dänemark üblich ist. „Ulla, warum hast du uns die traurige Geschichte erzählt?“ „Es gibt nicht mehr viele, die sich an diese Zeit -erinnern können.“ „Tut es nicht weh, über deine Kindheit zu reden?“ „Na ja, wenn es immer noch so schmerzte wie damals, hätte ich mein Leben nicht leben können.“ „Was geschah mit deinen Eltern?“ „Sie sind in Auschwitz ermordet worden.“ „Wie hast du überlebt?“ „Sie hatten die Kraft, mich fortzuschicken. Ich kam mit einem Kindertransport nach England.“

Die Pogrome in der „Reichskristallnacht“ vom 9. zum 10. November 1938 zeigen der Welt, wie -bedroht die Juden im faschistischen Deutschland sind. Am 15. November 1938 spricht eine Delegation des Council for German Jewry, einer britischen Flüchtlingshilfeorganisation, bei Premierminister Neville Chamberlain vor. Jüdische Familien nach Großbritannien zu holen lässt die innenpolitische Situation nicht zu. Flüchtlinge könnten den Briten die Arbeitsplätze wegnehmen, heißt es; die Parteien fürchten die ver-ärgerte Reaktion der Wähler auf eine uneigennützige Hilfsbereitschaft. Lord Samuel, der Leiter der Dele-gation, macht den Vorschlag, zumindest jüdische -Kinder aus dem Deutschen Reich nach England zu bringen, „mit der Garantie, dass keine öffentlichen Kassen belastet werden“. Am 21. November 1938 stimmt das britische Parlament den „Kindertransporten“ zu. Die Organisation übernimmt das neu gegründete Movement for the Care of Children from Germany, wenig später in -Refugee Children’s Movement umbenannt; über das BBC-Radio appelliert die Bewegung, Kinder aufzu-nehmen. Tausende Familien sind dazu bereit. Häufig melden sich ältere nicht jüdische Paare, die kinderlos geblieben oder deren Kinder schon erwachsen sind. Auf deutscher Seite übernimmt die Reichsvertretung der Juden in Deutschland die Organisation der Kindertransporte. Sie sind im Sinne der damaligen nationalsozialistischen Politik, die noch auf Vertreibung und nicht auf die Ermordung der Juden ausgerichtet ist. Heinrich Himmler, „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren“, weist die Landesregierungen an, „Kinderausweise und Reisepässe mit größtmöglicher Beschleunigung auszustellen“. Allein von Berlin aus fahren 20 Kindertransporte Richtung England ab, in Hamburg und anderen Städten nehmen sie weitere junge Flüchtlinge auf. Züge verlassen auch Frankfurt, München, Wien. Waggons werden reserviert, oder die Reichsbahn hängt zusätzliche Wagen an ihre Fernzüge. Die kleinsten Kindertransporte haben 40 Teilnehmer, die größten 500. Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 können so etwa 10?000 jüdische Kinder der Verfolgung entkommen. Die ältesten sind 17, die jüngsten zwei Jahre alt.

Ulla Jessing, die damals Ursula Friedländer heißt und Uschi genannt wird, verlässt Berlin am 21. Mai 1939, ein halbes Jahr nach der Pogromnacht. Überall in Deutschland wird an diesem Tag ein neuer Orden verliehen, das „Mutterkreuz“, an „deutschblütige Frauen“, die mehr als drei Kinder geboren haben. Ilse Friedländer krümmt sich in ihrer Wohnung in der Sächsischen Straße in Berlin-Charlottenburg unter einer Gallenkolik. Sie schickt an diesem Tag ihre jüngste Tochter fort und weiß nicht, wer sich ihrer annehmen wird, weiß nicht, ob sie sich je wieder-sehen werden. Uschi, 14 Jahre alt, zierlich und jungenhaft mit kurzen, dunklen Haaren, trägt einen neuen Trenchcoat, denn „in England regnet es doch so viel“, sagt ihr Vater Willi Friedländer. In einen kleinen Koffer hat sie etwas Wäsche, Fotos, ein neues Tagebuch und das Schulzeugnis einer jüdischen Privatschule gepackt; „Uschi Friedländer ist ein Mädchen von gutem Charakter, fleißig und gewissenhaft“ steht darauf. Auf die erste Seite des leeren Tagebuchs hat ihre Mutter ein Gedicht geschrieben: „Du musst gescheit sein und Wert nicht legen auf das Leben?/?Und musst bereit sein, täglich es lächelnd aufzugeben?/?Da trägt es plötzlich dir eine süße Huld entgegen?/?Da trifft dich ergötzlich vom Wege sein ganzer Segen?/?Bei allem, was du erlebst, denke an Deine Mutter.“

Sieben Jahrzehnte später liest Ulla Jessing mit ihrer hellen und brüchigen Stimme dieses Gedicht vor. Es ist zu einem Abschiedsbrief, einem Vermächtnis geworden. Ich fürchte, dass ich sie mit meinen Fragen plage. Doch Ulla Jessing liest so nüchtern und äußerlich unbewegt, als rezitiere sie Schillers Glocke. „Mit meinem Vater ging ich am Morgen dieses ?21. Mai 1938 vorbei an der Loge der Hauswartsfrau“, erzählt sie. „Sie war eine Nationalsozialistin und glotzte immer böse, wenn ich meine Freundinnen aus dem jüdischen Sportverein mitbrachte. Immerhin, vor dieser Frau brauchte ich künftig keine Angst mehr zu haben.“ Der Vater bringt sie zum Schlesischen Bahnhof. Dort warten bereits andere Väter und Mütter mit -Kindern und ihren Köfferchen. An Kordeln tragen ?sie Pappschilder mit Nummern um den Hals. Uschis Vater sagt nüchtern: „Wir sehen uns bald wieder.“ Willi Friedländer, Patriot, Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, Unternehmer, zeigt Haltung. Aber als der Zug den Bahnhof verlässt, eilt Friedländer zum Taxistand, lässt sich zum Bahnhof Friedrichstraße bringen, läuft zum Bahnsteig – da steht der Fernzug mit seiner Tochter. Wieder muntert er Uschi auf, wieder rennt er zum Taxistand. Der Staat hat Willi Friedländers Vermögen beschlagnahmt, was ihm geblieben ist, liegt auf einem Sperrkonto; die Familie bekommt jeden Monat nur so viel ausbezahlt, dass es zum Überleben reicht. An diesem Tag aber spielt Geld keine Rolle, Friedländer fährt weiter zum Bahnhof Zoologischer Garten: Dort trifft er seine Tochter noch einmal. „Glaubst du, dein Vater ahnte, dass er dich nie mehr wiedersehen würde?“ „Ja. Dass er von Bahnhof zu Bahnhof fuhr, deutet darauf hin.“

In Tagebüchern ist festgehalten, welche Szenen sich beim Abschied der Eltern von ihren Kindern -abspielten. „Mein Kind ist fort“, schreibt die Ärztin Hertha Nathorff über ihren 13-jährigen Sohn Heinz: „Früh um 6 Uhr haben wir den Jungen zum Schlesischen Bahnhof gebracht. [.?.?.] Und wen ich alles ?traf an diesem Morgen! Eine Kollegin in tiefer ?Trauer – ihr Mann starb drei Tage nach der Entlas-sung aus dem Konzentrationslager. Sie schickt ihren Jungen weg. Eine Patientin von mir bringt ihr vier-jähriges Mädelchen.“ Manche der jungen Reisenden weinen. Andere sind aufgekratzt. Viele Eltern haben von England geschwärmt, ihre Kinder erwarten ein Abenteuer in einem Land, wo die Menschen in Schlössern leben und die Männer aussehen wie Sherlock Holmes. „Sie kommen sich so wichtig, so interessant dabei vor, während es uns das Herz zerreißt“, schreibt Hertha Nathorff. Auch in Breslau startet einer der Transporte. Als der Zug losfährt, ruft der Vater der 14-jährigen Hannelore Grünberger ins offene Fenster: „Lass mich deine Hände halten!“ Er ergreift sie, zieht seine Tochter hinaus. Sie stürzt auf den Bahnsteig. „Wie kann ich ohne dich leben!“, sagt der Vater. Drei Jahre später fahren sie mit einem anderen Zug ins Konzentrationslager There-sienstadt. Hannelore und ihre Mutter werden von dort nach Auschwitz verschleppt, wo die Mutter ermordet wird. Sie selbst wird über verschiedene Lager schließlich nach Bergen-Belsen gebracht; bei ihrer -Befreiung am 15. April 1945 wiegt sie 26 Kilogramm. Während der Fahrten kommen schwarz uniformierte SS-Leute in die Abteile, sie suchen nach Wertsachen, Leica-Kameras zum Beispiel, die Eltern in ?die Koffer ihrer Kinder gepackt haben. Die Männer ohrfeigen einen Jungen, weil er seine Briefmarkensammlung mitgenommen hat; ein Mädchen muss sein Kettchen mit einem in Gold gefassten Milchzahn aushändigen. An der niederländischen Grenze nimmt ein deutscher Zöllner Uschi Friedländer die Uhr ?vom Handgelenk und sagt: „Ein jüdisches Mädchen braucht keine Uhr.“ Jene Erwachsenen, welche die Kinder begleiten, sind machtlos ob dieser Schikanen, manchmal stimmen sie Lieder an, um die Kleinen abzulenken. Die Reichsvertretung der Juden wählt die Begleiter nach „besonderer Charakterstärke“ aus; würden sie sich in London absetzen, könnten die britischen Behörden die Transporte stoppen. In den Niederlanden stehen jüdische Frauen auf den Bahnsteigen, sie reichen den Kindern Sandwiches und Kakao. In Hoek van Holland, an Bord der Fähre, richten Stewards auf dem Boden des Restaurants mit Decken Schlafplätze her, räumen ihre Kajüten frei. Solche Freundlichkeit ist den Kindern neu. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 sind auch sie mehr und mehr und immer unbarmherziger ausgegrenzt worden. Lehrer vermessen die Köpfe jüdischer Kinder im neu eingeführ-ten Fach „Rassenkunde“ und sind enttäuscht, wenn sie keine Unterschiede zu den „Ariern“ feststellen können. „Juden haben dunkle Augen“, verkündet Uschis Lehrerin in ihrer Geburtsstadt Holzminden. Alle Kinder drehen sich zu Uschi in der letzten Bank um – und lachen. Sie hat blaue Augen. Die Lehrerin schickt das Mädchen wütend vor die Tür.

In einer Plastikfolie auf dem Tisch liegen die wenigen Kinderbilder, die Ulla Jessing geblieben sind. Sie zeigen ein leicht pummeliges Bürgerkind mit langen Strümpfen und flachen Schuhen, hellen Kleidern und lockigen, kurzen Haaren. Einmal sieht man das Mädchen mit einem Hund: „Bobby, mein Dackel. Er war ein Geschenk zu meinem achten -Geburtstag.“ Auf einem anderen Bild ist Uschi mit einem Mädchen zu sehen. Beide tragen Schultüten und Schülermützen. „Das ist Gretel. Sie war meine beste Freundin.“ Als Uschi zehn Jahre alt ist, treten ihre Klassen-kameradinnen dem Bund Deutscher Mädel bei. ?Uschi bewundert die Uniformen, Gretel lässt sie ihre Jacke anprobieren. Die beiden werden beobachtet und denunziert. Zur Strafe wird Gretel für ein Jahr von den Jungmädeln ausgeschlossen. „Das muss furchtbar für sie gewesen sein“, sagt Ulla Jessing. „Gretels Eltern sagten bedauernd, es sei besser, wenn wir nicht mehr zusammen spielten. Mein Vater meinte, er verstehe das. Und so endete unsere Freundschaft.“ Schon im März 1933 werden Willi Friedländer und andere jüdische Männer aus Holzminden von SA-Schlägern eine Nacht lang festgehalten und verprügelt. Die Schergen spucken an die Wände der Zelle und zwingen die Festgenommenen, den Auswurf abzulecken. Das ist in Prozessakten aus den 1960er Jahren dokumentiert. Friedländer selbst erzählt seiner Tochter nie von dieser Nacht. „Ulla, warum seid ihr nach diesem Überfall nicht ins Ausland geflohen?“ „Mein Vater wollte bleiben. Er war schon über 50. Das Geschäft verkaufen? Anderswo neu anfangen? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er fühlte sich als Deutscher.“ „Wie hast du auf die Schikanen reagiert?“ „Ich wurde plötzlich sehr religiös. Dabei wusste ich vor 1933 nicht einmal, dass wir Juden sind! Ich war sicher, die Verfolgung musste eine Strafe Gottes sein, weil wir zu Hause nie beteten. Also führte ich Tisch-gebete ein.“ „Und deine Eltern fügten sich?“ „Sie ließen auf meinen Wunsch einmal in der -Woche sogar einen Rabbi kommen, der mich unterrichtete. Wir wurden verfolgt, weil wir Juden waren: Also wollte ich auch eine richtige Jüdin sein.“

Im Jahr 1936 zwingen die Behörden Willi Friedländer, seine Textilfabrik und das Konfektionsgeschäft am Holzmindener Marktplatz weit unter Wert zu verkaufen. Ein NSDAP-Mann schaut sich das Haus der Familie an. Bobby, der Dackel, gefällt ihm. So verlieren die Friedländers selbst ihr Haustier. Uschis Schwester Inge, vier Jahre älter als sie, findet in Italien eine Ausbildungsstelle als Kindergärtnerin und reist aus. Die Familie zieht nach Berlin; sie hofft, in der Anonymität der Großstadt unbehelligter leben zu können. Uschi wird Mitglied in einem zionistischen Sportverein und schaut Liebesfilme, heimlich, denn das Betreten von Kinos ist Juden mittlerweile verboten. Willi Friedländer findet keine Anstellung, er besucht jüdische Familienväter, die in der gleichen Lage sind wie er. In der eigenen Wohnung gehen sich die Eheleute auf die Nerven. Am 9. November 1938 schickt der Hubschrauber-Konstrukteur Anton Flettner, der mit einer Cousine von Ilse Friedländer verheiratet ist, einen Boten: ?Willi Friedländer solle sich in Flettners Wochenendhaus am Wannsee verstecken. In der Nacht hören Uschi und ihre Mutter randalierende Männer durch die Straßen ziehen. Trotzdem schickt Ilse Friedländer ihre Tochter am nächsten Morgen zur Schule. In den Straßen liegen die Splitter zerborstener Schaufenster. Einige Männer, bewacht von Uniformierten, tragen Plakate, auf denen „Saujude“ steht. Die Lehrer der jüdischen Privatschule im Grune-wald schicken ihre Schüler sofort wieder nach Hause. Als der Fahrer sieht, dass nur jüdische Kinder in -seiner Straßenbahn sitzen, steht er auf, gibt einem jeden die Hand und sagt: „Glaubt nicht, dass alle damit einverstanden sind, was heute passiert.“ Zu Hause erwartet Uschi ihre weinende Mutter. SS-Leute haben die Wohnung überfallen; weil sie Willi Friedländer nicht vorfanden, schlugen sie seine Frau. Sie haben gedroht, wiederzukommen und, sollte der Vater immer noch nicht da sein, Ilse mitzunehmen. „Ich werde dich begleiten“, sagt Uschi zu ihrer Mutter. Die beiden wagen es nicht, bei Nachbarn um Unterschlupf zu bitten. Sie warten. Doch die Männer kommen nicht wieder.

Ulla Jessing erzählt: „Wir fühlten uns wie Mäuse ohne Mauseloch. Mein Vater kam nach einigen Tagen aus seinem Versteck zurück. Alle zusammen schauten wir uns einen Globus an. Wo könnten wir nur hin? Aber es war hoffnungslos.“ Fast alle Länder haben ab Mitte der 1930er Jahre ihre Grenzen für mittellose Juden aus Deutschland dichtgemacht. Nur wem Verwandte oder Freunde mit Geld und Einfluss helfen können oder wer einen -gefragten Beruf hat, bekommt eine Einreisegenehmigung. Tausende suchen in England Arbeit als Zimmermädchen, Koch oder Haushälter; dort ist Dienst-per-sonal knapp, wer eine Stelle findet, darf einreisen. „Mein Vater hatte 1939 von den Kindertransporten gehört und mir einen Platz besorgt. Aber ich wollte nicht ohne meine Eltern gehen!“ „Sie haben dich also überredet?“ „Ja. Sie sagten: Wenn du erst in England bist, kannst du uns helfen, ein Visum zu bekommen. Und so bin ich am 21. Mai 1939 in den Zug gestiegen. An die Fahrt selbst kann ich mich kaum erinnern. Ich war so niedergeschlagen, dass ich ganz in mir gefangen war.“

Einen Tag später kommt Uschi Friedländer an der Liverpool Station in London an. Auf dem Bahnsteig warten Frauen der B’nai B’rith-Loge, einer jüdischen Wohltätigkeitsorganisation. Ein Bus bringt ungefähr 40 Kinder zum Haus der Loge im Stadtteil Blooms-bury. Und dort wartet Uschis Schwester Inge, sie wird an diesem 22. Mai 19 Jahre alt. Die junge Frau ist aus dem faschistischen Italien, das ebenfalls begonnen hat, Juden zu diskriminieren, nach England geflohen und arbeitet als Köchin bei wohlhabenden Leuten. Die Schwestern haben sich über drei Jahre nicht gesehen. „Mama und Papa geht es sehr gut“, behauptet Uschi. Sie erzählt nichts von den Pogromen, nichts von der Gallenkrankheit ihrer Mutter, nichts von den Streitigkeiten der Eltern. Pflegeeltern kommen ins Haus der Loge, um sich ein Kind auszusuchen. Niedliche, am liebsten blonde Mädchen bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren sind besonders gefragt. Weniger hübsche Kinder und ältere Jungen bleiben häufig zurück und werden in Heimen untergebracht. „‚Oh, what a nice boy!‘, rief eine Frau“, erzählt Ulla Jessing, „es war wie auf einem Sklavenmarkt!“ Archiv-Fotos zeigen Kinder mit steinernen Gesichtern. Die Jüngeren halten sich an ihren Puppen fest. Manche werfen Blicke aus den Augenwinkeln. Plötzlich stehen ein Mann und eine Frau vor Uschi, beide Anfang 40. Sie möge mitkommen. Uschi bittet um eine Stunde Zeit mit ihrer Schwester. Das Paar schlägt ihr dies aus: Zu Hause in Ilford, einem Lon-doner Vorort, warteten die Kinder. Der Vater arbeitet als Ingenieur in der Fotoindu-strie, die Mutter ist Hausfrau. „Wann beginnt die Schule?“, fragt Uschi. „Du wirst nicht zur Schule gehen“, teilen sie ihr mit. Die 14-Jährige kocht, wäscht, holt die sechsjährige Tochter und den zehnjährigen Jungen von der Schule ab. Sie spart ihr Taschengeld. Nach vier Wochen reicht es für die Fahrt nach London. In der Küche hinterlässt sie einen Zettel, bedankt sich für die Aufnahme – schreibt aber auch, dass sie zur Schule gehen müsse, um später ihre mittellosen Eltern unterstützen zu können. Viele der jungen Flüchtlinge werden als Hausbedienstete ausgenutzt, doch die Motive der meisten Pflegeeltern sind unzweifelhaft. Aber wie liebevoll sie auch sein mögen: Die Kinder fühlen sich fremd. Passanten starren Mädchen aus Bayern und Österreich wegen ihrer spitzenbesetzten Dirndl an. In den Betten liegen kratzige Woll- statt Daunendecken. Brot ist weiß und weich wie Kuchen, Klopapier glänzend und hart. Die Tischsitten sind merkwürdig: Man muss das Essen auf dem Rücken der Gabelzinken zum Mund balancieren. Der zehnjährige Walter Bloch schreibt an seine Mutter im Allgäu: „Morgens gibt es immer so einen pappigen Brei. Zum Mittagessen gibt es jeden Tag Rosenkohl, da ist noch Wasser drin, er ist nicht gewürzt und nichts, dann gibt es noch halb harte Kartoffeln und sonst nichts.“ Je jünger die Kinder sind, desto weniger sind sie ?in der Lage zu begreifen, warum ihre Eltern sie weggeschickt haben. Die untröstliche Verzweiflung der Kleinen überfordert manche Gastfamilie. Die achtjährige Norma Hornstein wird nach einer Woche wieder in die Obhut der Organisatoren gegeben, weil sie fast ununterbrochen weinen muss. Für jene, die nicht in Familien unterkommen, -mietet die Flüchtlingshilfe Häuser an, Kasernen und -Ferienlager werden zu Heimen. Viele Kinder der -ersten Transporte werden zunächst in Dovercourt -untergebracht, in einem Sommerferienlager – mitten im Winter 1938/39. Es ist so kalt, dass sie in Mänteln zu Bett gehen, das Wasser friert in den Zahnputzbechern. Die zehnjährige Lore Groszmann versteckt eine Knackwurst so lange, bis die anderen sich über den Gestank beschweren. Lores Mutter hat ihr die Wurst kurz vor der Abfahrt des Zuges in Wien zugesteckt. Eine englische Eigenart aber lieben die meisten Kinder: die Schuluniformen. Endlich sehen sie aus wie alle anderen, endlich gehören sie dazu. Dass Uschi Friedländer in London weiter zur -Schule gehen darf, ist allerdings ein Privileg: Die -Mittel der Flüchtlingshilfe sind begrenzt, deshalb müssen die meisten Kinder, die gewöhnlich aus bürgerlichen Familien stammen, im Alter von 14 Jahren die Schule verlassen; viele werden Arbeiter oder lernen ein Handwerk. Das junge Mädchen lebt nun in einer Pension im Londoner Bezirk Hampstead. Irgendwann findet es, dass der kindliche Name Uschi nicht mehr zu ihm passt: Uschi will Ulla heißen. Und so nennt sie auch ein Junge mit runder Hornbrille und zurückgekämm-tem Haarschopf, der zu Hause in Wien seinen Vater nach einem Gestapo-Verhör hat sterben sehen – Erich Fried. Wer den 18-Jährigen nach seinem Berufsziel fragt, erhält zur Antwort: „Deutscher Dichter.“ Fried ist es, der Ulla mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Kontakt bringt. Jeder zehnte Flüchtling im Alter von 14 bis 18 Jahren, der mit einem Kindertransport nach England kommt, schließt sich irgendwann dieser neuen Gruppe an. Sie ist der Nukleus, aus dem nach Kriegsende die Jugendorganisation der DDR werden wird. Die FDJ wird Ullas Ersatz-Großfamilie: Zwei Dutzend junge Menschen, die zusammen in einem Haus in Hampstead leben. Sie führen Stücke von Brecht auf, verlieben sich, streiten darüber, wie ein besseres Deutschland aussehen könnte. Erich Fried treibt ein antiquarisches Buch in deutscher Sprache auf, das „Kommunistische Manifest“, und liest daraus vor. Ulla Friedländer wird Kommunistin. Sie schwärmt für Stalin mit der gleichen Verve, mit der sie wenige Jahre zuvor in Holzminden jüdische Tischgebete durchgesetzt hat: eine Identität, bestimmt durch Verfolgung. Sie ist eine junge Frau, die eine Antwort will auf die Frage: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? „Das Leben lastet schwer auf uns jungen Menschen, die ohne elterliche Hut sich frühzeitig in den Lebenskampf stürzen mussten“, schreibt sie im Alter von 15 Jahren in ihr Tagebuch. „Aber ich kann es ertragen, denn ich habe eine Idee, für welche ich kämpfe.“ Der Inhalt der Sätze will nicht recht zu der runden Mädchenschrift passen. Auf der nächsten Seite im Tagebuch seufzt Ulla in Gedanken an einen Jungen aus der FDJ: „Wenn ich dich sehe, bin ich glücklich. Wenn ich dich spreche, bin ich froh. Liebst du mich auch so?“ „Ulla, du warst ganz schön weit für deine 15 Jahre.“ „Ja, natürlich. Die Gleichaltrigen in England fand ich alle viel zu kindlich. Die Einsamkeit, das Heimweh, die Angst um unsere Familien, das alles hat uns früh erwachsen werden lassen.“ Die verzweifelten Eltern in Deutschland überfordern ihre Kinder in England manchmal grenzenlos. Ob er nicht bald einen Arbeitgeber für sie fände, fragen die Eltern des 13-jährigen Herbert in jedem Brief. Manche Kinder schaffen es irgendwann nicht mehr, die Last dieser Verantwortung zu tragen, und schreiben nicht mehr zurück nach Hause. „Deine Eltern baten, du sollst dich um Visa für sie bemühen?.?.?.“ „Ja, ich habe überall gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe.“ Vergeblich. „Fühlst du dich schuldig, dass du deinen Eltern nicht helfen konntest?“ „Nein. Ich fühle nur große Dankbarkeit, dass sie die Kraft hatten, mich allein wegzuschicken. Wie schwer das gewesen sein musste, begriff ich erst, nachdem ich selbst zwei Töchter zur Welt gebracht hatte.“

Am 1. September 1939 überfällt die deutsche Wehrmacht Polen, in Berlin fährt ein Zug mit 150 Jungen Richtung London ab – der letzte Kindertransport. In Prag, seit März 1939 von den Deutschen besetzt, wird eine für den 3. September geplante Fahrt mit 250 Kindern in letzter Minute gestoppt: Großbritannien hat Deutschland den Krieg erklärt. London lebt in der Verdunkelung, um sich vor deutschen Fliegerangriffen zu schützen, und Ulla Friedländer geht zum Zivilschutz. Sie soll Blindgänger und Bomben mit Zeitzündern suchen und melden. Manchmal krachen Splitter der explodierten briti-schen Luftabwehrgranaten auf Dächer und Straßen; bei ihrem ersten Einsatz zittert sie vor Angst. Ulla wartet auf ein Lebenszeichen von ihren Eltern. Nach Kriegsausbruch dürfen sich die Angehörigen nur noch einmal im Monat über das Rote Kreuz schreiben – 25 Wörter sind erlaubt. Anfang 1943 schreibt die Mutter, dass die Eltern auf eine lange Reise gehen, dass sie sich wiedersehen würden. Es ist die letzte Nachricht von Ilse und Willi Friedländer. Ulla geht nach Glasgow; in einem Schnellkurs ?wird sie zur Dreherin ausgebildet, in Nachtschichten stellt sie Flugzeugmotorteile für die Royal Air Force her. Viele der älteren Kindertransportteilnehmer -werden Rüstungsarbeiter und Krankenschwestern; 700 Jungen und 300 Mädchen dienen in der briti-schen Armee. Um bei einer Gefangennahme nicht als deutsche Juden erkannt zu werden, lassen sie ihre -Namen angli-sieren: Stürtzel wird zu Stephens, Morgenstern zu Morgan. 1945 ist der Krieg zwar zu Ende, aber es dauert ?oft Monate, gar Jahre, bis überlebende Eltern und ?ihre Kinder zusammenkommen. Vielleicht jeder dritte Kindertransportflüchtling sieht seine Eltern oder wenigstens Mutter oder Vater wieder, wie viele es wirklich waren, lässt sich nicht mehr ermitteln. Manchmal können sie sich nicht mehr verständigen, denn viele Kinder haben ihr Deutsch verlernt. „Ulla, als Mitglied der FDJ wolltest du zurück, um ein besseres Deutschland aufzubauen?“ „Ja, ich ging 1947 nach Berlin.“ „Warum nicht früher?“ „Ich war staatenlos und bekam zunächst keine Papie-re. Die britischen Behörden wussten ja, dass wir Kommunisten waren, das machte uns suspekt. Holzminden lag in der britischen Besatzungszone, dahin durfte ich nicht. In Berlin bin ich dann als Erstes in unsere alte Straße nach Charlottenburg gegangen.“ „Stand das Haus noch?“ „Ja. Auch die Hauswartsfrau war noch da. Aber jetzt war sie sehr freundlich. Sie erzählte, meine Eltern hätten sich gefälschte Visa für Schweden besorgt, seien aber auf einen Gestapo-Spitzel hereingefallen. Sie seien festgenommen und nach Osten transportiert worden. Und dann sah ich diesen Stuhl .?.?.“ „Welchen Stuhl?“ „Mein Vater hatte einen Stuhl mit geschnitzter Lehne in seinem Herrenzimmer. Der stand nun da, bei dieser Frau! Ich habe mich umgedreht, bin weinend auf die Straße gerannt und nie zurückgekehrt.“ 1948 erhält Ulla Friedländer einen Brief der United Restitution Organization, die Angehörige der von -Nazis Ermordeten vertritt. Die Anwälte teilen ihr mit, dass ihre Eltern am 29. Januar 1943 nach Auschwitz verschleppt wurden und dort verschollen sind. „Trotzdem habe ich noch viele Jahre gehofft, ?dass meine Eltern plötzlich vor der Tür stehen“, sagt sie. Darüber und über ihre Geschichte aber spricht ?sie nicht. Nicht mit ihrer Familie – sie heiratet 1950 einen dänischen Bauingenieur, mit dem sie zwei Töchter bekommt – und nicht öffentlich. In Kopen-hagen arbeitet sie als Korrespondentin für die DDR-Tageszeitung „Neues Deutschland“; 1968, nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag, distanziert sie sich vom Kommunismus. In diesen Jahren schweigt Ulla Jessing „aus Respekt vor denen, die noch viel Schlimmeres durchgemacht haben“. Ihre Tochter Ditte, die heute Mitte 50 ist, erzählt: „Als ich ein Kind war, spürte ich: Ich darf nicht nach meinen Großeltern fragen.“ Erst Mitte der 1990er Jahre, fast sechs Jahrzehnte nach dem Abschied von ihrem Vater auf einem -Berliner Bahnsteig, ist für Ulla Jessing die Zeit des -Schweigens vorüber, aber auch die Zeit des heimlichen -Hoffens. Im Rahmen einer Ausstellung zum ?Bau des Berliner Jüdischen Museums könne man im Kopenhagener Architekturzentrum ein Buch ein-sehen, in dem die Namen aller während des Holo-caust Er-mordeten aufgeführt seien, liest Ulla Jessing in der Zeitung. Sie bittet ihre Töchter, sie zu begleiten. Seitenlang ist die Liste „Friedländer“. Irgendwann liest Ulla Jessing die Namen Willi und Ilse. „Schwarz auf weiß. Unwiederbringlich.“

Immer am 9. November jährt sich jener Tag, an ?dem sich die 14-jährige Uschi Friedländer fühlte wie eine Maus ohne Mauseloch. In der Kopenhagener Fußgängerzone erinnern Demonstranten 2009 an die Pogromnacht von 1938 und fordern eine liberalere Flüchtlingspolitik in Dänemark. Nieselregen fällt ?auf die Gruppe von vielleicht 100 Teilnehmern. Es ist kalt, die Lautsprecher sind schlecht, die Reden nur schwer zu verstehen. Passanten mit Einkaufstüten eilen an der Kundgebung vorüber und an deren ältester Teilnehmerin, einer kleinen Frau mit gebeugtem Rücken, Ulla Jessing, geboren als Ursula Friedländer am 16. August 1924 in Holzminden, einer kleinen Stadt in Deutschland.