Zeitenspiegel Reportagen

Die Insel der Hundertjährigen

Erschienen in "Brigitte", 14/2015

Von Autor Jan Rübel

Sardinien ist eine besondere Insel. Etwas hier lässt die Menschen auf glückliche Weise sehr, sehr alt werden. Liegt es am Wein, an der Luft oder am Respekt vor dem Alter?

Giulio Podda ist ein Mann mit einem Plan. Gerade hat er unterm Wellblechdach im Hinterhof seine Schuhe geflickt. Gleich muss noch ein Zaun aus dickem Schilf für die Nachbarn zusammengebunden werden, „aber auf jeden Fall“, sagt Giuglio Podda, „trinken wir uns erst mal einen an“. Er steigt in die Küche, über eine mit vier Steinen beschwerte Fußmatte, hin zum Tisch. Die Flasche Zitronenlikör hatte er in den frühen Morgenstunden schon für den Besuch bereitgestellt.

Für Giulio Podda aus dem 8000-Seelen-Dorf San Sperate im südlichen Sardinien geht es stets voran. Bei seinem Fahrrad funktioniert nur das Vorderlicht, und seinen letzten Geburtstag im vergangenen September feierte er drei Tage lang mit 1000 Gästen. Da wurde er hundert.

Warm ist es am offenen Feuer seiner Küche. Er legt einen Scheit Eukalyptus in den Kamin. Nach dem dritten Likörglas überlegt Giulio Podda, was ihn so fit hält. „Nun“, sagt er und ordnet seine Schiebermütze symmetrisch zu seinen beiden großen Ohren, „vielleicht ist es die gute Luft?“ Aber nein, da sei etwas. „Es ist die Arbeit. Einfach immer arbeiten, und sich nicht dabei stressen.“ Mit zehn schickte ihn der Vater als Schafhirten in die Berge. Er pflückte Oliven, verkaufte Tabak und später Früchte. Schließlich arbeitete er im Straßenbau, „immer draußen an der frischen Luft“.

Sardinien ist für alte Menschen ein guter Ort. Kaum ein Flecken weltweit kennt mehr über Hundertjährige als die große Insel im Mittelmeer. Derzeit sind es 241 – das macht 15 auf 100.000 Einwohner. In den - Niederlanden sind es sieben, in Österreich acht. Und die Menschen auf Sardinien werden immer älter.

Die Suche nach einem Grund dafür beschäftigt die Wissenschaft. Rund 200 Kilometer nördlich von San Sperate steht in Sassari, der zweitgrößten Stadt Sardiniens, eine Frau in weißem Kittel vor einem langen Holztisch, auf der marmornen Platte Dutzende Reagenzgläser. Mit einer elektronischen Pipette spritzt Sara Pasella ein Nahrungsextrakt hinein. „Sardische Produkte wie Käse oder Wein weisen genetische Besonderheiten auf“, sagt sie. „Nun untersuchen wir, ob Zellkulturen mit ihnen länger leben als mit den gleichen Produkten, die nicht von der Insel sind.“ Sara Pasella ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „AkeA“ – die Abkürzung für „a kent annos“, „auf hundert Jahre“. So grüßen sich die Sarden auf der Straße.

Leiter von „AkeA“ ist Luca Deiana, 72, Professor für Biomedizin an der Universität Sassari. „Wir forschen auch aus persönlichem Interesse“, sagt er und lacht. „Ich habe einen Ahnen, Giovanni Deiana, der laut Taufbuch 1718 auf die Welt kam und 124 Jahre später starb. Das ist dokumentiert!“

Fest steht, dass auf Sardinien etwas anders ist. Forscher haben herausgefunden, dass 80 Prozent der Bevölkerung genetisch auf die Ursiedler der Insel vor 4000 Jahren zurückzuführen sind. „Schauen Sie in ein Telefonbuch“, sagt Sara Pasella, „sehr viele unterschiedliche Familiennamen werden Sie dort nicht finden“. Eroberer sah Sardinien viele. Aber ob Phönizier, Römer oder Piemonteser – mit jeder Invasion zogen sich die Sarden tiefer ins Hinterland zurück, in ein schwer passierbares Gebirge mit dichten Wäldern. Sie blieben unter sich. Und schufen ein Paradies für die Genetiker des 21. Jahrhunderts.

Insgesamt 3000 Fälle von über Hundertjährigen hat das Team dokumentiert. „Ein Blick in die Sterbebücher vergangener Generationen zeigt, dass sich die Aussicht auf hohes Alter offenbar vererbt“, sagt Luca Deiana. „Ein einzelnes Methusalem-Gen gibt es nicht. Aber wir sind auf eine Reihe von Phänomenen gestoßen, die sich im Alter wahrscheinlich günstig auswirken.“ Die Forscherinnen und Forscher der Uni Sassari nahmen sich zum Beispiel das männliche Y-Chromosom vor. Sie fanden bei vielen superalten Männern eine Mutation, die den Blutdruck senkt. Der Spur gehen die Wissenschaftler derzeit nach.

Der genetische Sonderweg schafft nicht nur Vorteile. So weist Sardinien weltweit das zweithöchste Vorkommen von Typ1-Diabetes auf. Aber selbst Krankheiten können wiederum Positives mit sich bringen. So leiden viele Insulaner am so genannten Favismus, einem Enzymmangel, der heftige Reaktionen beim Verzehr von Bohnen hervorruft. „Doch der Mangel dieses Enzyms G6PD führt auch zu einem gewissen Schutz vor Infektionen“, sagt Luca Deiana – ein wichtiger Faktor im Alter. Noch verstehe die Wissenschaft zu wenig von diesen Abläufen. Aber zukünftig, glaubt er, würden Genmanipulationen zur Lebensverlängerung möglich sein. Den sardischen Sonderweg könnten somit womöglich viele beschreiten.

Aber ist es so einfach? Steckt der sardische Jungbrunnen lediglich in der DNA? „Man kann Mercedes-Gene haben“, sagte einmal Bradley Willcox vom Pacific Health Research Institute in Honolulu dem Magazin „Time“, „aber ohne Ölwechsel wird man nicht länger leben als ein Ford Escort, der gut gepflegt wird.“ Das sardische Öl kann sich sehen lassen. Zumindest das Olivenöl.

Das Dorf Barumini verneigt sich vor seinen Bäumen. An der Hauptstraße, 40 Kilometer nördlich von San Sperate, stehen vier Stämme, tausend Jahre alt. Der Bürgersteig umläuft sie im Zickzack, die Häuser passen sich ihrem Wuchs an. Auf der angrenzenden Wiese stehen drei Dutzend uralte Olivenbäume, dahinter verliert sich der Blick ins Unendliche, als bildete das mächtige Gehölz ein Dach. Überall liegen Oliven auf dem Boden. Das Holz mag tausend Jahre alt sein, seine Früchte aber sind weich und saftig.

„Olivenöl selbst gepresst habe ich mein Leben lang“, sagt Bonaria Mulliri. „Heute machen es meine Kinder und Enkel. Dick muss es sein, mit einem weißen Schimmer durchs Grün.“ Vorm leeren Kamin rückt sie sich in einem Sessel zurecht. Wenn Bonaria Mulliri vom Essen spricht, und das tut sie gern, leuchten ihre kleinen schwarzen Augen. Die Bauernfamilie lebte ausschließlich von der eigenen Frucht: vom selbst gebackenen Brot, dem selbst geschöpften Schafskäse „und vom Wein natürlich, am liebsten Cannonau“, sagt sie. Den trinke sie noch heute täglich, „mi allegra, er macht Appetit. Brot und Käse mit Wein, das isst man noch auf dem Sterbebett gern“. Bonaria Mulliri ist 106. Ihre tiefe Stimme schallt lachend durch den Raum. „Vor acht Jahren habe ich ein Haus gekauft“, sagt sie. „Wo? Auf dem Friedhof.“

Zwei ihrer Töchter und drei Enkel sind gekommen, die Söhne sind draußen auf den Feldern. „Ich habe nur vor einer Sache Angst, vor dem Alleinsein.“ Das geschieht den Alten Sardiniens kaum. Das Lebensende in einem Altenheim gilt als Schande für die Töchter, die da zu sein haben. Jeder weitere Geburtstag der Alten wird gefeiert wie ein Punktsieg des Fußballvereins. Der höchste Respekt gebührt ihnen. Und so manche Frau opfert sich auf für ihre Alten, rückt sie in den Lebensmittelpunkt und alles andere weg.

Eine Tablette habe sie noch nie geschluckt, sagt Bonaria Mulliri. „Mir gefällt alles – nur nicht das Fernsehprogramm“. Die nackten Frauen dort, selbst bei der Wettervorhersage, das sei doch eine Schande. „Zum Glück sehe und höre ich nicht mehr gut“, sagt sie, als einer der Söhne hereinkommt. „Aber die Sprache hast du noch nicht verloren“, lacht der. Sie mustert ihn, als habe er unerlaubt gesprochen. Dann übertönt sie sein Lachen mit ihrem eigenen. „Jetzt denke ich so viel nach. Das gefällt mir gar nicht. Am liebsten würde ich einfach arbeiten und mir keine Sorgen machen.“ Doch dafür sind mittlerweile die Beine zu krumm. In den Händen aber ruht noch immer Kraft. Bonaria Mulliri nimmt einen Laib Brot, bricht ein Stück ab. Dieser Geruch, herb-säuerlich. „Das esse ich jeden Tag – auch ohne Zähne.“

Die Sarden lieben ihr Brot. Über 300 Sorten kennt die Insel, und in ihnen liegt die Kraft der Tradition, als könnte man sie in Scheiben schneiden. Ihr Geheimnis liegt in der Langsamkeit.

An der Bäckerei hängt kein Schild. Nichts deutet darauf hin, dass in dem 300 Jahre alten Backsteinbau ein besonderer Teig geknetet wird. Ein Kunde tritt an den Tresen. „Sie wünschen?“, fragt Viviana Sirigo und streicht die weiße Schürze glatt. „Brot“, sagt der Mann. Diese Information reicht der 42-Jährigen aus, sie langt ins Regal hinter ihr und zieht aus den verschiedenen Formen und Farben einen Laib weichen Weizenbrots hervor. Das „Pane Noddizzosu“ nennen die Sarden auch „Brot der Hundertjährigen“. Die Bäckerei in Orroli, einem Örtchen nordöstlich von Mandas, nennt sich „Kentos“, „hundert“.

Viviana Sirigo führt in die Backstube, weist auf einen brötchengroßen Hefekloß. „Wir nehmen ihnen von der ‚Madre’, unsere Hefe ist 300 Jahre alt“, sagt sie und zeigt auf das eingeritzte Kreuz. 20 Stunden muss diese Hefe ruhen, dann verschwindet das Kreuz. An der Backbank kneten ihre Gesellen Raffaele und Andrea die Laibe und legen sie in Körbchen. „Zehn Stunden arbeitet nun der Teig, bevor es in den Holzofen geht.“ Am Rezept, sagt Viviana Sirigo, habe sich seit Generationen nichts geändert. Auch nicht am Hartweizen und seinen zwei Meter langen Ähren, schon immer biologisch-ökologisch, bevor die Sarden dieses Zertifikat kannten. „Wenn wir diese Tradition verlieren, wissen wir nicht, was wir essen“, sagt Viviana Sirigo. „Wir gäben etwas über unser Leben aus der Hand. Warum sollten wir das tun?“ Zumal es sich auch finanziell lohnt. Finanz- und Wirtschaftskrise rauschen unbemerkt an „Kentos“ vorbei. Brot kauft man immer, besonders dieses.

Aber kann es wirklich am Brot liegen, dass die Sarden so alt werden? Oder am Olivenöl? „Es gibt tatsächlich besondere Produkte“, sagt Luca Deiana, der Forscher von AkeA. „Zum Beispiel einen Schafskäse mit Bazillen, die es nur auf Sardinien gibt. Die senken das Cholesterin. Oder der Cannonau-Wein – der hat mehr Antioxidantien als herkömmliche Weine.“ Diese chemischen Verbindungen unterbänden unerwünschte Oxidationen im Körper, „die führen nämlich zu Stress und tragen zum Alterungsprozess bei“. Und da gäbe es noch etwas, sagt Luca Deiana. „Wenn es ein sardisches Geheimnis jenseits der Genetik gibt, dann dieses: in allem das richtige Maß finden.“ Und er zählt die Besonderheiten des sardischen Alltags auf: das angenehme, kaum extreme Klima auf der Insel; das lebenslange Leben und Arbeiten in freier Natur; der Rückhalt der Familie, ihre Zuneigung und die Anerkennung von Alten in der Gesellschaft. Das viele Lachen.

Schon immer gab es Superalte auf Sardinien, dies bezeugen auch römische Grabsteine aus der Antike. Dabei erlebt die Insel heute widerstreitende Trends. Einerseits steigt die Lebenserwartung, unter anderem wegen des medizinischen Fortschritts – wie überall. Zum anderen aber ernähren sich die jungen Sarden nicht mehr nur von Pane Noddizzosu, selbst gezogenen Tomaten und Schafskäse, hüten nicht alle Schafe oder pflügen bis abends den Boden. Das alte Geheimnis der Sarden droht zu schwinden. „Ich zum Beispiel habe noch nie Nutella gegessen“, sagt Luca Deiana, „aber die Jungen?“

Zurück in San Sperate: Giulio Podda, der aktive Superalte, lässt es sich schmecken. Spontan hat der Dorfpolizist zu einem Mittagessen geladen, es gibt Spaghetti mit Tomatensauce, dann Brot und Käse. Giulio Podda schneidet ihn mit seinem eigenen Taschenmesser, steckt sich ein Stück Pecorino in den Mund und schließt die Augen. Auf dem Fahrrad war er vorbeigekommen, eine Zwei-Liter-Flasche Cannonau-Wein auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Mit ihm spült er nach, genießt das Rot Schluck für Schluck. Die Augen lässt er zu. In Gedanken geht er das Menü für seinen nächsten Geburtstag durch. „Vielleicht Fleisch, zur Abwechslung“, sagt er und hält inne. „Was soll’s. 101 werde ich eh, ob tot oder lebendig.“ Und lacht.