Zeitenspiegel Reportagen

Ein Ort zum Wohlfühlen

Erschienen in "stern - Ratgeber Bildung", 01/2010

Von Autor Jan Rübel

Kaum ein Einfluss wird so unterschätzt wie das Schulklima. Da geht es nicht bloß um das jährliche Sommerfest, sondern darum, ob sich die Kinder geborgen fühlen und die Eltern eingebunden sind. Die Montessorioberschule in Potsdam zeigt, wie ein Schulleben aussehen kann. Dafür setzt die Direktorin Siebt- und Achtklässler sogar an die Luft: Eine Woche pro Monat wird eine ehemalige Stasi-Ferienkolonie zum Schulhof für die Pubertierenden.

Wer bei Schule bloß an Unterricht denkt, der verkennt ihren ungeheuren Einfluss: Sie bildet eine Zwischenwelt zwischen Familie und Gesellschaft. Der Entwicklungsforscher und Kinderarzt Remo Largo sagt: „Wenn Kinder sich möglichst erfolgreich entwickeln sollen, müssen sie in einem sozialen Umfeld aufwachsen, in dem sie sich geborgen und angenommen fühlen. Das gilt für das Elternhaus wie für die Schule.“

Das Klima, die ganze Atmosphäre – das ist für die Jury des Deutschen Schulpreises ein Topkriterium bei der Beurteilung. Dabei ist das Schulleben für die Experten mehr als das Sommerfest, der Elternabend oder die Aufnahmefeier. Es umfasst ein ganzes Spektrum an Gelegenheiten, die das Lernen im Unterricht ergänzen, unterstützen und erweitern. Es reicht von Theateraufführungen über Leseprojektwochen bis hin zu Angeboten für das ganze Viertel wie zum Beispiel ein Elterncafé oder eine Kooperation mit der Geschichtswerk- statt. Das schaffen die Lehrer nicht allein, dafür brauchen sie außerschulische Partner und die Eltern.

2007 bekam die Montessori-Oberschule in Potsdam den Deutschen Schulpreis verliehen – besonders gefielen den Juroren hier das Klima, der Umgang und die Angebote für Schüler. Die Väter und Mütter werden aktiv ins Schulleben eingebunden, ihr Engagement ist wichtig und willkommen. Die Lehrer fragen jeden Einzelnen von ihnen: Und was wollen Sie einbringen?

Da ist zum Beispiel Nicolette Wels; die Mutter arbeitet ehrenamtlich in der Schulbibliothek im ersten Stock. Im Erdgeschoss bespricht Egon Behrens, Vater zweier Schulkinder, mit der Rektorin Neuanschaffungen. Und da ist Dietrich Stratenwert. Der pensionierte Lateinlehrer bringt interessierten Schülern die alte Sprache nahe.

Nicolette Wels sortiert Karteikarten. „Ich mag die ruhige Atmosphäre hier“, sagt die Hausfrau. „Mir macht die Arbeit Spaß.“ Ein Team von Eltern organisiert den Bibliotheksbetrieb. Frau Wels beaufsichtigt einmal in der Woche die Schüler in der Bücherei, hilft ihnen bei der Literatursuche oder redet einfach mit ihnen. „Es ist schön zu beobachten, wie entspannt und interessiert sich die Schüler mit den Büchern bilden.“ Auch fühle sie sich darüber ihrem Sohn, einem Fünftklässler, in der Schule verbunden. So könne sie ihren Beitrag dafür leisten, dass seine Schule ein schöner Ort werde. „Die Bibliothek ist da ein Steinchen im Mosaik.“

Gestiftet wurde die Bücherei von Eltern und von Kindern. Eine Elterngruppe verwaltet den monatlichen Etat für Neuanschaffungen. Der Bücherbestand wächst. Oft überlassen Kinder und Eltern der Bibliothek ihre gebrauchten Bücher. „Von Reformpädagogik haben die meisten Eltern hier nichts gehört“, sagt Nicolette Wels. „Sie sehen schlicht, dass es ihren Kindern gut geht.“

Mit monatlichen Briefen informieren die Lehrer die Eltern über Neuigkeiten an der Schule: Arbeitsgemeinschaften der Schüler, Investitionen, aber auch Gesuche von Kindern für Mitfahrgelegenheiten. Manche kommen täglich aus Berlin nach Potsdam, um auf die Montessori-Oberschule gehen zu können. Oft laden die Lehrer die Mütter und Väter auch zu persönlichen Gesprächen ein. Die Eltern sollen wissen, wie es ihren Kindern an der Schule ergeht, wie sie sich fühlen und wie ihr Leistungsstand ist. Und einmal im Jahr unterrichten sie selbst eine Woche lang. Die Lehrer nutzen diese Zeit für die Arbeit an Projekten und für Fortbildung.

Egon Behrens war vor Kurzem einer dieser Kurzzeit-Pädagogen. „Ich habe eine Einführung in die niederdeutsche Sprache gegeben“, sagt er. Er hat Mädchen und Jungen aus der siebten und achten Jahrgangsstufe Liebesgedichte vorgelesen und war überrascht über das Interesse der Schüler. „Die wollten immer mehr wissen“, sagt er.

Der Architekt Behrens, 54, steht dem Förderverein der Schule vor. Jedes Jahr sammelt die Elterngemeinschaft 50 000 Euro ein, aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Nun gilt es, sie zu verteilen, dafür trifft er sich mit Rektorin Ulrike Kegler in der Schule. „Zehntklässler haben sich zu Gruppen zusammengetan“, erzählt er. „Das eine Team will eine metallene Sonnenuhr für 420 Euro bauen, das andere beantragt den Umbau eines Schrankwagens in ein Mediamobil.“ Damit sollen in jede Klasse Videobeamer für Powerpoint-Präsentationen gerollt werden können. „Der Finanzierungsplan überzeugt“, sagt Egon Behrens. Überhaupt seien die Kinder hier außerordentlich selbstständig. „Bei Gesprächen mit ihnen habe ich oft den Eindruck, auf Augenhöhe zu agieren.“ Die Freude am Lernen, der Spaß am Schulleben und dieses Interesse, das spüre er jedes Mal hier.

Zahlreiche Projekte gibt es an der Schule – mit professioneller Hilfe von außen: Ein Bootsbauer mit Honorarvertrag zimmert mit den Schülern Kanus. Im Werkraum der Schule fertigen sie die Holzboote – als Nachmittagsangebot, aber auch im Arbeitshilfeunterricht wird ab und zu Hand angelegt. Ein Choreograf führt sie ins Tanztheater ein, und der Installationskünstler Dirk Krechting entführt sie einmal in der Woche in die Welt des Malens. „Heute haben die Schüler ihre Skizzenideen von selbst erlebten Träumen auf die Leinwand gebracht“, sagt er. „In der AG bohre ich ihre kreativen Potenziale an.“

Dietrich Stratenwert war Gymnasiallehrer in Berlin. Vor fünf Jahren wurde er pensioniert, aber die Begeisterung für Latein blieb. Mit einer AG will er nun die Schüler für Altsprachliches begeistern. Bei ihm lesen sie lateinische Texte über das Alltagsleben von Kindern im alten Rom, halten Referate über den Circus Maximus oder Julius Cäsar. „Viele kommen immer wieder“, sagt der 70-Jährige. „Ich möchte, dass sie bei mir lernen, über Sprache und die fremde Kultur nachzudenken.“

Es ist Pause. Mädchen und Jungen eilen über den Schulflur nach draußen auf den Hof. Sie laufen vorbei an Sitzkissen und runden Tischen, an einer antiken Pfaff-Nähmaschine und Blumenvasen in den Ecken. Schwere Gardinen hängen vor den Fenstern. In den Schultoiletten zieren lauter kleine Spiegel die Wände, die Decken sind knallrot gestrichen, die Klobrillen bunt gestreift, Glasmosaike ersetzen die sonst so spröden grauen Kacheln.

Schönheit tut dem Geist gut. Und je wohler sich Menschen in ihrer Umgebung fühlen, je handlungsorientierter sie arbeiten können, desto besser ist ihre Leistung.

Die Wände strahlen in Lila und Grün. Überall auf den Fluren in der Montessori-Oberschule ist Kunst zu sehen. Dies ist meine Schule – das sagen die Zeichnungen, Collagen und Installationen der Schüler. Neben einer Klassentür an der Wand hängt ein Sinnspruch in kleinen Blockbuchstaben hinter Glas, gerahmt von einer Mutter. Er fasst zusammen, was die Schule zusammenhält: „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“

Von außen dagegen wirkt der Schulbau unscheinbar, wie ein Kasernenschlafsaal aus grauem Waschbeton. Schulleiterin Ulrike Kegler sagt: „Wir hätten auch zuerst in eine verschönerte Fassade investieren können, aber uns kam es auf eine neue Haltung an, die von innen heraus kommt.“

Der Wandel war anfangs schiere Not. Nach dem Mauerfall bekam die damalige Karl-Liebknecht-Oberschule nicht genug Anmeldungen. 1991 öffnete sie sich für Behinderte, 1993 baute Ulrike Kegler, die gerade als Lehrerin an die Schule gewechselt war, die erste Schulklasse auf Basis der Montessori-Pädagogik auf. Nach der Lehre der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori (1870–1952) ist das Kind „Baumeister seiner Selbst“: Es weiß am besten, in welchem Tempo und auf welche Art es lernen will. Damit es alle Sinne entfalten kann, braucht es eine Umgebung, die sich an seine psychischen Bedürfnisse anpasst. Aufgabe des Erwachsenen ist es, diese Umgebung zu bereiten.

Als der damalige Schulleiter zwei Jahre später in den Ruhestand ging, übernahm Ulrike Kegler sein Amt. Seitdem hat sie das Motto Montessoris ins Schulleben eingeführt: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ – „Diese Schule hat ihren Weg gefunden“, sagt Bibliotheksmutter Nicolette Wels, „das ist wie bei einem Menschen.“

Aus der Mensa dringen die Töne einer Mozart-Sonate. Maria Krawietz-Eggers begleitet am Flügel das Löffelklirren der Schüler. Die Musiklehrerin setzt sich oft während des Mittagessens ans Klavier. Weil es so gut schwingt. Weil sie sich dabei entspannt – und die Schüler auch. Eine Leichtigkeit weht durch den Saal. Gemeinsam beginnen und beenden die Schüler ihr Mahl, einige bringen die Schüsseln an die Tische und räumen sie ab. Die Einteilung für diese Dienste organisieren die Mädchen und Jungen selbst. Das fördert Gemeinsamkeit und Verantwortung; das Mittagessen ist der kommunikative Mittelpunkt des Tages. Eineinhalb Stunden Zeit nimmt sich die Ganztagsschule für die Pause. Zum Atemholen.

Überhaupt ist Zeitdruck ein Fremdwort in Potsdam. Die Kinder sollen hier ihren eigenen Rhythmus finden, ihren eigenen Lernweg. Dafür ist der ganze Tag da, und der Nachmittag sowohl fürs Lernen als auch für die Freizeitangebote. Besonders klar zeigt sich das bei den Siebt- und Achtklässlern. Die Lehrer schicken die Pubertierenden regelmäßig an die frische Luft.

Schlänitzsee 1 heißt ihr „Schulhof“, der zwölf Kilometer entfernt liegt. Die Oberschule hat die drei Hektar am See 2006 gepachtet. Früher war hier einmal eine Stasi-Ferienkolonie zum Ausspannen für verdiente Mitarbeiter. Heute verbringen die Schüler der Jahrgangsstufe sieben und acht eine ganze Woche im Monat hier. Ziegen soll es bald geben, Bienen, eine Baumschule und Gemüsebeete.

Tim aus der 7d hockt auf dem Boden und traktiert eine Baumwurzel, die muss raus. Sie will aber nicht. Schweiß perlt die Stirn herab. Knie aufsetzen geht nicht, das würde die weite Rapperjeans ruinieren. „Wir bräuchten die Motorsäge“, sagt Mitschüler Emil. „Die ist zu groß“, murmelt Tim. Die beiden graben rund um ein tiefes Grundwasserloch Sitzreihen in die Erde hinein, „für Kurse unter freiem Himmel“, erklären sie. Das Landbauprojekt soll die Jugendlichen selbstständig machen. „Für Schüler in der Pubertät ist der Schulraum zu eng“, sagt Ulrike Kegler. „Beim Übergang in die Sekundarstufe können die Kinder sich nicht mehr so konzentrieren wie im Kindergarten oder während der Grundschule.“

Die Auszeit in der Pubertät tut den Jungs und Mädchen gut. Und sie hinken auch keinesfalls beim Stoff hinterher – im Gegenteil: Beim Notenabschluss der neunten und zehnten Jahrgangsstufe liegt die Schule über dem Durchschnitt der Brandenburger Schulen.

Denn die Heranwachsenden lernen viel bei der Arbeit im Gelände. Schulleiterin Kegler zeigt einen türgroßen Bogen Papier. Mit Zirkel und Lineal haben die Schüler Kreuze eingetragen. „Die haben alles selbst vermessen.“ Die 13-Jährigen haben das Gelände kartografiert und einen Flächennutzungsplan erstellt. In der kommenden Woche, wieder im Klassenraum, werden sie in Deutsch ihre Arbeitsprotokolle schreiben, in Physik die Kraft eines Bolzenschneiders errechnen und in Gesellschaftswissenschaften die Kulturgeschichte des Ackerbaus studieren. „Wir lernen bei der Arbeit“, sagt Tim. „Und wir spielen bei der Arbeit.“

Doch jetzt wird es Ernst. Diese zähe Wurzel muss endlich raus. Tim beißt die Zähne zusammen, stemmt das Sägeblatt noch einmal in den Boden – und mit einem sanften Plopp löst sich das Geflecht vom Stamm. Tims Gesicht glüht.