Zeitenspiegel Reportagen

Wie ich auszog, Banditen zu treffen

Erschienen in "Lufthansa-Magazin", 1. September 2015

Von Autor Jan Rübel

„Insel der Geheimnisse“ heißt Sardinien in den Reisekatalogen. Wohl wahr: Unser Autor traf auf Meeresseide, klingende Steine und eine Räuberpistole

Eine miese Geschichte überkam Orgosolo im Jahr 1903. Als der schwerreiche Diego Moro starb, stritt seine Familie ums Erbe. Der Zwist löste im Dorf eine Blutfehde aus, der 50 Einwohner zum Opfer fielen, in diesem Flecken mitten im zerklüfteten Supramontegebirge Sardiniens. Der Ort war ein Banditennest: Von der Außenwelt nur über einen staubigen Pfad zu erreichen, galt Orgosolo als uneinnehmbar für alle zahlreichen Eroberer, die Sardinien in seiner Geschichte kommen und gehen sah. Als Kind hatte ich einmal im Fernsehen einen Film gesehen, in „Die Banditen von Orgosolo“ spielten die Orgolesi sich selbst – Hirten, die nach eigenem Recht und Gesetz handelten, aus bitterer Armut nahmen, was sie brauchten und der Staatsmacht in schroffen Bildern in Schwarz-Weiß trotzten – einem Staat, der in Sardinien mehr ein Rohstoffreservoir sah und sich um die Bürger kaum scherte.

Keine Frage, ein klassisches Reiseziel gab Orgosolo nicht ab. Und deshalb wollte ich dorthin. Ich wollte Banditen treffen. Galt der Ausspruch eines Ethnologen aus den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts, wonach in Orgosolo die Steinzeit noch nicht zu Ende sei, auch heute? Stehen an den Bartresen womöglich Che Cuevaras neben Anarchisten? Zwar hatte das Örtchen in jenen Fünfzigern immerhin eine erste Polizeiwache erhalten, das würde eine Wirkung entfaltet haben. Die Geschichten über Banden, Entführungen und andere Aufwallungen indes hörten nicht auf.

Bevor ich in der Bergwelt der Barbagia abtauchte, wie schon die Römer dieses „Barbarenland“ nannten, wollte ich einmal das Meer sehen. Der Mietwagen glitt vom Flughafen in Cagliari im Süden der Insel gen Westen. Hin und wieder gab der Küstenstreifen in seinem sanften Grün einen Blick auf die See frei. Als sich vorm Fiat das Städtchen Sant‘ Antioco auftat, mit seinen Häuschen in hellem Pastell, legte sich ein dünnes Wolkenband auf den Horizont und verwandelte sich in Gold. In der Viale Regina Magherita fiel mein Blick auf ein Holzschild. „Museo del Bisso“, stand darauf. Wer oder was war ein Bisso? An der Tür ein Zettel: „Hier wohnt nicht die Eile.“ Ich trat ein. Eine Frau kam mir entgegen, in ihren Händen ein Gold wie am Himmel – als sie die wollartigen Knäuel ins Licht hob und deren unscheinbares Braun plötzlich gülden schimmerte. „Das ist keine Wolle“, winkte sie ab und ließ die Fäden fallen. Sie schwebten langsam zu Boden, als flögen sie. Chiara Vigo, 60, trug eine schwarze Tunika mit Goldbrokat, die schwarzen Haare streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Der Bisso hier“, sagte sie, „ist Meeresseide“. In ihrem Atelier, entlang Papierstapeln und Gläsern mit seltsam schimmernden Flüssigkeiten, zeigte sie am Rand auf eine Muschel so groß wie ein zweijähriges Kind. „Die edle Steckmuschel kann über 20 Jahre alt werden“, sagte Chiara Vigo. „Ein Sekret aus ihren Fußdrüsen benutzt sie als Haftfäden – das ist der Byssus.“ Dünner als Seide, im Sonnenlicht glimmend: solch einen Stoff, den Chiara Vigo aus diesen Fäden in einer geheimen Prozedur spann, hatte ich nie vorher gesehen. In dreißigster Generation stelle sie den Byssus her, sagte sie. Tauche hinab und entnehme den Muscheln sanft ihren Schatz. Fischer versicherten mir später, dass Chiara Vigo der letzte Mensch auf der Erde sei, der sich darauf versteht. „Die Leute denken, ich sei reich“, lächelte sie. „Aber ich verkaufe den Byssus nicht. Er gehört allen.“ Ein wenig benommen verließ ich den Ort, an dem die Eile nicht wohnt, und ließ das Meer hinter mir.

Mit der Fahrt ins Landesinnere stieß ein Duft von Zitronen und Orangen in die Nase, sie markierten, von ihren Bäumen gefallen, den Wegesrand. In San Sperate, einem 8000-Seelen-Städtchen nördlich von Cagliari, traf ich an der Mitte einer Kreuzung auf eine Stele. Ein drei Meter hoher Steinmenhir, der mit seinen eingesägten Linien und Mustern an ein übergroßes Mainboard für Alien-Computer erinnerte, jedenfalls in die alten Gassen nicht recht passte. Ein Alter auf einer Parkbank zeigte mit dem Arm wortlos die Straße hinab. Dort, an der Via Oriana Fallaci, wies ein Schild den „Klingenden Garten“ aus. Zwischen zwei Stelen stand Pinuccio Sciola, der 70-Jährige hackte eine Furche in den Boden für ein drittes, von ihm gerade bearbeitetes Wunderding. „Schließ die Augen“, sagte er unaufgefordert, packte meine Hand und legte sie auf den Stein. Da schlich ein Klang aus dessen Inneren. Es erinnerte mich an etwas, das ich nicht kannte. Als ich aufblickte, sah ich, wie der Künstler mit einem Metallstab über den Stein glitt. Tief hinein hatte er gesägt und einen Resonanzkörper geschaffen, der nun klang. „Ich bin kein Musiker“, sagte er, „die Steine waren von Beginn an da, sie haben alles angehört“. Spontan lud er zum Abendessen. Ein Freund kam vorbei, es gab kurz angebratene Filets vom Esel mit Knoblauch und Petersilie, darauf Öl mit einem Hauch wilder Pistazie. Im Bett dann fiel mir ein, wo ich einmal ähnliche Töne gehört hatte: auf der Website der Nasa, aufgenommen aus den Weiten des Weltraums.

Am nächsten Tag erreichte ich Orgosolo. Das Ortsschild war von Gewehrschüssen durchlöchert. Mein Herz klopfte, als ich durch steil auf und ab mäandernde Gassen fuhr, die Häuser wie an einen Berg geklebt. Musterte man mich? Das Hotel lag unweit vom Friedhof. Der gab mir einen Vorgeschmack, was mich erwartete: auf den Grabsteinen standen eingemeißelte Sätze wie „tragisch umgebracht“, „von grausamer Hand entrissen“ oder „von mörderischer Hand geraubt“. Im Hotel bestellte ich eine Pizza Diavola. Erst als ich in eine scharfe Salamischeibe biss, wurde ich des Wandbildes gegenüber gewahr: Es zeigte Gevatter Tod, wie er in seine schwarze Kapuze gehüllt ein spitzes Beil hob. Mir wurde schummrig. War es eine gute Idee gewesen, dieses Dorf mit seinen 4000 Einwohnern anzusteuern? Auf dem Nebentisch lag die Lokalzeitung; die ersten sieben Seiten beschrieben ausführlich einen Rachemord unter Jugendlichen.

Für eine erste Kontaktaufnahme dachte ich an Graziano Mesina. Der heute 72-Jährige galt in seinen jungen Jahren als Oberbandit Orgosolos. Überfälle, Rachemorde, zehn erfolgreiche Gefängnisausbrüche – heute arbeitete er als Touristenführer, hatte ich gehört. Ich fasste Mut und steuerte die „Bar Mesina“ an. „Grazianeddu ist nicht da, er sitzt im Gefängnis“, sagte ein Mittvierziger, er stand an der Theke vor einem Schnapsglas mit Whiskey. Auf seine alten Tage habe er einen Drogenring aufgebaut, Cannabis, Kokain, Heroin, „der kommt so schnell nicht wieder raus“. Andere Guides? Der Mann, zu dem sich rasch drei Freunde gesellten und mir ein Glas zuschoben, schüttelte den Kopf. „Vor ein paar Jahren hat einer mal Überfallevents für Reisebusse angeboten. Lief aber nicht gut.“ Nach dem zweiten Glas schließlich fragte ich nach den Banditen. Sie schauten sich an. Dann mich.

„Macht doch keiner mehr“, sagten sie. „Lief noch schlechter.“ Überhaupt: Die Not sei vorbei. Und die Polizei kenne alle Verstecke.

Ich wusste nicht, ob ich ihnen glauben konnte. Warum sollten sie auch gegenüber einem Fremden über Justiziables plaudern? Die kleinen Gläser füllten sich von allein, auf Einladung von irgendwem, und benebelt setzte ich meine Suche fort. Erst jetzt fielen mir die vielen Malereien an den Hauswänden auf. Sie erzählten viel von Gewalt und Krieg, zeigten aber auch Blumen und Bäume. In einer Seitenstraße hatte eine Frau mit langen blonden Haaren den Pinsel zwischen den Zähnen und begutachtete ihr Werk: Hirten mit erhobenen Fäusten. „Wir haben 250 solcher Murales in der Stadt“, sagte Teresa Podda. „Früher war Orgosolo sehr verschlossen. Man meinte stets etwas verteidigen zu müssen. Dann fingen vor 35 Jahren die Wandmalereien an – damit drückten wir uns aus.“ Für die Banditen, meinte sie, komme ich zu spät.

Ich wollte es genau wissen und betrat die Polizeiwache. Der diensthabende Gendarm mit rundem Gesicht und einer Spur verzeihenden Lächelns auf den Lippen runzelte die Stirn. „Orgosolo war mit das letzte Dorf in Sardinien, das sich geändert hat – aber das hat es.“ Ja, Polizisten würden immer noch schräg angeschaut. „Aber es gibt hier nicht mehr Kriminalität als anderswo.“

Ich hatte dann noch eine schöne Zeit in Orgosolo. Die Verschlossenheit der Orgolesi, sie galt gegenüber Touristen nicht. Ich wandelte entlang der bunten Murales, roch an der frischen Minze, die selbst am Straßenrand wucherte und aß angeräucherten Ricotta-Frischkäse oder Pasta mit getrockneten Meeräschenrogen – und hatte Mühen, den Gastwirten Geld dafür zu geben. Ach ja, das Bild von Gevatter Tod im Hotel stellte sich als Porträt einer Witwe mit Kopftuch bei der Feldarbeit heraus. Die Grabsteine mit den Blutinschriften waren aus vergangenen Jahrzehnten – und die Fehde in der Lokalzeitung tobte 40 Kilometer nördlich.

Als ich die Stadt verließ, raschelte es am Straßenrand im Gebüsch. Das war ein Bandit, ganz bestimmt.